Scott McCloud - Comics richtig lesen

Unlängst drückte mir ein Freund ein Buch in die Hand und meinte: »Hier, ich hab dir mal Fachliteratur mitgebracht.« Ich schlug auf und musste schmunzeln: Ein Comic über Comics, ok, nette Idee, aber Fachliteratur? Doch es funktionierte in der Tat! Als leicht lesbarer Comic verkleidet, untersucht und beschreibt das Buch das Medium mit genau den Mitteln, aus denen es sich zusammensetzt. Einfach prächtig!

Worum geht es? Zunächst wird sich heute kaum einer noch ernsthaft oder wenig differenziert die Frage stellen, ob Comics als Kunst zu bezeichnen sind, was 1993 beim Erscheinen des Buches wohl noch akut war. Allerdings bricht der Autor Scott McCloud (Jahrgang 1960) nicht einfach nur Lanzen für den Comic. Er stellt sich die Frage, wie Comic funktioniert und was er leisten kann, er dekonstruiert das Wesen und die Sprache und entwickelt unter Einbeziehung von Kognitions- und Kommunikationsmodellen eine umfassende Theorie des Comics.
McCloud selbst – als stilisierte Figur mit blanken Brillengläsern und karriertem Jackett – führt uns von Seite zu Seite und von Bild zu Bild durchs Thema. Vorab definiert er den Comic als »zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere Zeichen«, um dann einzelne Aspekte durchaus anspruchsvoll zu behandeln. In seinen Ausführungen zur Wahrnehmung geht es beispielsweise um Abstraktion & Identifikation (warum etwa ist es uns unmöglich, in einem Smiley etwas anderes als ein Gesicht zu sehen?). Und was geschieht zwischen den einzelnen Bildern (Panels), wie funktioniert die Induktion, die der Leser leistet, indem er Fragmente zu einem sinnvollen Ganzen ergänzt? (Zitat: »Der Tanz des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren steht durch die Induktion im Zentrum des Comics!«) Welche Arten von Panel-Übergängen gibt es eigentlich, und was sagt uns ihre Gewichtung über die narrativen Absichten des Autors oder die Perzeptionsgewohnheiten des Lesers? Wie wirkt der fragmentierte Raum im Comic und wie lassen sich Zeitabläufe (zwischen den Panels und in einzelnen Bildern) umsetzen? Das klingt sehr theoretisch, jedoch wartet McCloud en passant mit Beispielen, Diagrammen und einfallsreichen Schaubildern auf, welche die Unterschiede zwischen verschiedenen Autoren oder den Comictraditionen und Erzähltechniken Japans und des Westens verdeutlichen (Stichwort linear vs. zyklisch). Damit nicht genug, referiert McCloud weiter über die Darstellung von Emotionen und Sinneseindrücken im Bild (Synästhesie), geht auf die Wechselwirkung von Wort, Bild und Geschichte ein und entwickelt abschließend eine hochinteressante Theorie des kreativen Prozesses (Kapitel 7, absolut zu empfehlen).

Sein Stil ist, nun ja, amerikanisch: McCloud doziert charmant & ungezwungen, pointiert & effektvoll; bisweilen wird er philosophisch: »Die Mauer der Ignoranz, die so viele Menschen daran hindert, einander zu sehen, wie sie sind, kann nur durch Verständigung durchbrochen werden. Und die Verständigung kann nur gelingen, wenn wir die Formen verstehen, die die Kommunikation annehmen kann.«
Beim Lesen erwischen uns unentwegt Aha-Effekte – indes trotz aller lehrreicher Theorie ist das Buch eine fantasievolle und kurzweilige Lektüre. Man neigt dazu, es zu unterschätzen, vielleicht weil es so viel Spaß bereitet. Aber sobald man das nächste Mal einen normalen Comic zur Hand nimmt, stellt sich jenes Verständnis des Mediums ein, für welches McCloud so charmant geworben hat.

Mit seinen inzwischen klassischen Ausführungen zur visuellen Kommunikation war Scott McCloud übrigens auch wegweisend für die (Medien-)Akteure des digitalen Zeitalters. Er veröffentlichte entsprechende Nachfolgebände und doziert an verschiedenen amerikanischen Universitäten.

Wie gesagt, ein sehr lehrreiches Buch, kein gelehrtes, sondern prägend durch seine Anschaulichkeit und die narrative Kraft des Autors: Die Bilder und Themen bauen aufeinander auf, Gedanken entwickeln sich aus dem virtuosen wie leichtfüßigen Wechselspiel von Bild & Text, Inhalt & Form.

Ein junger Klassiker quasi, den man einfach im Bücherregal haben muss. Schon schwant mir ungut der Moment, da mein Freund sein Exemplar zurück verlangen wird. . .



lehrreiche Wundertüte


McCloud - Comics richtig lesenScott McCloud: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst, Carlsen Verlag, Hamburg 1999.









Kommentare

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dvdfrgv · 18.09.18 · #