Neulich Kalle Koschmitzens verrückter Tag

Neulich Kalle Koschmitzens verrückter Tag - Neulich 09 - somabeatKalle Koschmitzens verrückter Tag begann eigentlich nicht mit dem EKG-Gepiepse seines Weckers, sondern als er, mit Kaffee und Kippe gewappnet, auf den Balkon trat und im schütteren Lindengeäst vor seiner Nase einen Papagei gewahrte. Da war er dann auch hellwach. Der Papagei neigte echsenartig den Kopf, linste ihn an und sprach etwas, das wie ›Hurensohn‹ klang. Ist das zu fassen?
Kalle rieb sich die Augen… Was machte bitteschön der Papagei hier, im November, auf seinem Hinterhof? Kalle Koschmitz – ›Huuurensohn‹ – wußte nun zufällig, daß Papageien ziemlich intelligente Viecher sind. Die Kea-Papageien im Süden Neuseelands, jetzt mal nur als Beispiel; sobald die Schafzucht dort extensive Ausmaße annahm, fanden sie sich schnell in Scharen bei den großen Schafschlächtereien ein, um von den Abfällen etwas abzubekommen (Papageien fressen Fleisch, jawohl, zuweilen). Heerscharen schwirrender, quer durch die Frequenzen kreischender Cherubim kreisten über Haufen industriell nicht verwertbarer Schafreste – stelle sich das Einer vor, unterm Trompetengold der südlichen Sonne. Nicht Kiwis – Keas wohlgemerkt. . . Na ja. Jedenfalls waren die Papageien bald dazu übergegangen als freischärlende Einheiten die friedlich in die Dämmerung glotzenden Schafe anzufallen, einzelne Tiere von der Herde abzudrängen und mit ihren dicken Schnäbeln dem blökenden Fleisch große Löcher in den Körper zu hacken! So mancher Bock ging drauf dabei, die Vögel hatten es besonders auf Fettschichten und Nieren abgesehen. Ganz recht: Papageien als blutrünstige Carnivora, im taktisch gestylten Raubzug geeint – ein alter Dinosaurier-Genius…?
›Hu-hurrren-sohn‹ Kalle Koschmitz zog sich vorsichtig in seine Wohnung zurück. Er wußte Bescheid, zumindest auf einer Ebene, die nur ein paar Schicksalsschläge von der Weisheit entfernt war. Kalle las viel und er arbeitete geringfügig beschäftigt in der evangelischen Buchhandlung seiner Taufpatin. Er liebte das & gehörte quasi zum Inventar. Meist stöberte er in Nachschlagewerken oder in der Ecke mit den antiquarischen Büchern, wo er gestern kurz vorm Gehen in einem Speckband national geprägter Anthropologie eine Miszelle über die menschliche Intelligenz fand. Die Theorie besagte, daß die Menschen per se nicht intelligenter würden, da ihre Kopfgröße durch die Größe des Geburtskanals beschränkt sei. Das leuchtete irgendwie ein, stimmte aber gleichzeitig einen blutleeren Gleichmut in ihm an. Wie auch immer, Kalle Koschmitz hatte sich fest vorgenommen, den zugehörigen Artikel heute zu studieren, und so radelte er zur Arbeit.
Der Tag war blaß & kalt, voll Niesel gesogen. Alles duckte sich ins Pflaster, zog sich in die Häuser. Der Park war völlig entvölkert, bis auf einen Typen, der immerzu nach Hank rief – sein Hund, wie sich herausstellte. Sonst kein Arsch zu sehen, so daß sich die Enten sogar mitten auf die Wiese getrauten und dort nach Regenwürmern stöberten. ›Fressen Enten wirklich Regenwürmer?‹ dachte Kalle Koschmitz noch und versuchte, den Gedanken aus seinem Lesewissen zu verifizieren, als er zwischen Pollern auf die Berliner Allee einbog. Den Radweg leer und monochrom schillernd wie eine Rennstrecke vor sich … – und nach wenigen Metern unsanft gestoppt wurde: Bautz! Da ging die Thüre auf! Klassischer Fall von Fahrertür-Aufreißen, och-da-hab-ich-doch-glatt-vergessen-zu-gucken, ob, ein, Radler, kommen, könnte.
Kalle fand sich über die Tür gefaltet wieder, sein Rad unter sich und nebenan eine rehgesichtige Frau sich aus dem Auto hievend, die er erstmal anschrie und ihr um ein Haar Eine gehauen hätte. Er nahm sogar Wörter mit F* und A* in den Mund. Nun hätte sich das durchaus nicht jeder bieten lassen, aber das Rehgesicht hatte nicht nur Schuldgefühle sondern auch ein Helfersyndrom. Es baute sie auf, wenn sie andere aufbauen konnte, und bei Kalle Koschmitz erkannte sie – durch die Brille ihrer stoischen Milde, die sie von einem Zen-Seminar in Japan mitgebracht hatte – erkannte eindeutig, daß er jetzt genau dieser Hilfe bedürfe. Ob er denn Probleme mit seiner Freundin habe, daß er derart auf Frauen losgehe? – Das meinte sie in vollem Ernst. Er solle doch mal mit seiner Freundin reden. Kalle Koschmitz war geplättet, da fiel ihm nichts mehr ein. Reden, ja klar. Und er wäre noch erstaunter gewesen, wenn er gewußt hätte, daß die Frau privatim seit wackeren fünfzehn Jahren kein Wörtchen mehr mit ihrer Tochter gewechselt hatte. Die Menschen wurden offenbar nicht an sich selber klüger – möglicherweise eine Frage der Intelligenz?
Da sein Rad plötzlich wenig zutrauliche Geräusche von sich gab, schloß Kalle Koschmitz es ans Geländer und stieg in die Bahn um. Dort mußte er sich von einem zehnjährigen Popanz belehren lassen, daß der Fahrkartenautomat nicht mit Geld sondern nur mit Geldkarte funktioniere (tolle Modernisierung). »Da bist du jetzt ‘n Schwarzfahrer«, krähte der Bengel lauthals. Hu-hurensohn…! Na, es ging aber doch gut. Beim Aussteigen erlebte Kalle noch, wie eine ältere, in der Erscheinung kegelförmige Dame von einem betrunken Mitbürger anderer Hautfarbe angemacht wurde (auch das noch) und bei ihm, also bei Kalle Schutz suchte. »Daß ich in meinem Alter noch angesprochen werde«, kokettierte sie und scheuchte den Ausländer mit einem höflichen ›Bye bye‹ davon. Tja, auch so was gibt’s. . .
Im Laden roch es nach Papier, Karton, gewachstem Schutzumschlag. Und nach den Topfpflanzen seiner Patentante, derer es so viele gab, daß mancher Kunde sich in einem Blumengeschäft wähnte. Kalle Koschmitz war gerade dabei, die neuen Bestellungen in den Rechner einzupflegen, klimbim – da betrat ein Hüne die Buchhandlung. Er friemelte kurz an seinem MP3-Player.
»Ich hätte gerne eine Bibel oder so was in der Drehe. Aber nicht so viel mit Gott.«
Ä-ähh? »Ja, was haben Sie sich denn vorgestellt?«
Der Hüne nahm die Kopfhörer aus dem Ohr und Rockabilly-Sound tänzelte in seine Aura. Die beiden kamen ins Gespräch und es zeigte sich, daß er einer Spezialeinheit der Bundeswehr angehörte, Informationsbeschaffung, und in wenigen Tagen für vier Monate nach Afghanistan müsse, enduring freedom etc., zur Front am Hindukusch… Tja-ha! und da wollte er lieber irgendein heiliges Buch dabei haben. Wird nämlich bald Vater der Jungoffizier. Klar, daß Kalle Koschmitz hier aufhorchte und sehen wollte, was über diesen diskreten Job weiter herauszubekommen sei. Zunächst, daß er mal mehr und mal weniger diskret war: »Erst fragen, dann schießen. So machend das die Deutschen bei der Informationsbeschaffung. Und da sind wir Weltspitze!« Ob er Dari, Paschto oder dergleichen lernen müsse? Nee, nur Englisch. (?) »Na worum geht’s denn genau bei der Informationsbeschaffung? Sollen Sie Warlords in die Mangel nehmen oder was?« Sorry Kalle Koschmitz, Schweigepflicht, rien ne va plus… Am Ende verkaufte Kalle dem Hünen ein Exemplar des Popol Vuh aus Diederichs Gelber Reihe. »Bleiben Sie heile, Mann.« – »Ich geb mir Mühe.«
Über dem Treiben dieweil war Kalle Koschmitz von seinem Tagesziel abgekommen und wurde erst später von einem Stammkunden erinnert. Der schneite herein und teilte mit, daß er soeben in der Zeitung von einer ganz neuen Studie gelesen habe, nach der schon Neugeborene in der Melodie oder wenigstens dem Duktus ihrer Muttersprache schreien. Das hieße dann ungefähr, daß italienische Frischlinge melodiöser schreien als neugeborene Khoisan, aber weniger tonpräzise als chinesische Babys. Und wie war das bei Babys, die mit Nazideutsch aufwuchsen? Oder solchen, die stumme Eltern hatten…?
Ha! Ja richtig, Babys. Er wollte doch noch diesen Artikel über den Geburtskanal als natürliche Intelligenz-Grenze der Menschheit lesen. Aber nix da. Kalle Koschmitz kam einfach nicht dazu. Bereits aus Richtung Feierabend rauschte ein Schwarm Nonnen herein und stürzte sich auf die Lebensratgeber, beinahe wie die Kea-Papageien auf ein Schaf. Im Rascheln ihrer Tuniken, im Lavendelduft des Skapuliers (der Schulterüberwurf, lange Streifen vorne und hinten, die das ›Joch Christi‹ symbolisierten), in die Bügelfalten ihres Habits gerahmt (Karmelitinnen?), berichteten sie, wie Eine von ihnen im Krankenhaus ihre Blutsschwester besucht hatte, die dort wegen Brustkrebses eine schlimme Zeit zubrachte. »Man müßte sich gegen das Leben versichern können, hat sie zu mir gesagt. Ist das nicht traurig? So gottverlassen?« Ob er denn nicht ein hervorragendes Mutmacher-Buch aus dem Überangebot empfehlen könne? – Kalle Koschmitz gab sein Bestes. Hier zum Beispiel: Richtig Atmen. Entspannter Geist – gesundes Leben. Oder vielleicht auch eine CD: Nie mehr Lebensüberdruß. Die Sechs heilenden Laute. Mit der Originalstimme von Meister Lu Zhi-Chang. . . Wofür die Nonnen sich schließlich entschieden, war ein in Signalfarben getränktes Machwerk: Authentisch Leben durch Empathie. Warum wir Gott durch Andere sehen. Was soll’s…
Kalle Koschmitzens Kismet wollte es so, daß er auch nach Feierabend nicht dazu kam, seinen Intelligenz-Artikel zu lesen. Immerhin ein wenig hoffnungsvoll steckte er das Buch ein. Seine Freundin hatte angerufen, er solle doch bitte zu ihr zum Video-Gucken kommen. Kalle dachte sich nun, gut, wenn sie ganz entspannt den Film guckt, könnte er doch den Text nebenbei lesen, heimlich quasi… Aber denkste! Bettina kannte den Film bereits auswendig und schielte eigentlich nur darauf, wie er den Film gucken und darauf reagieren würde. »Guck mal jetzt die Stelle, die ist geil!« …Und dann wurden es auch noch zwei Videos. Man hätte ja sonst miteinander reden können, nicht wahr?
Kalle Koschmitz schaltete auf Durchgang, sein Blick schwappte nach innen, wo er vielleicht überlegte, wie er nachher mit seinem ramponierten Rad nach Hause kommen wür.. Ach Scheiße! Sein Rad hatte er total vergessen. Grummel-grummel, ja-ja, ich-weiß-schon: Die Menschen werden eben nicht intelligenter. Das hatte der Liebe Gott so eingerichtet und lachte sich ins Fäustchen. Da konnte man es keinem verübeln, der an irgendeiner Front hockte und sauer auf Gott war. Um so besser, daß er nicht notwendig ein unheiliges Gefühl dabei hatte.

Druckversion

Kommentare