Neulich in Deutschland, mein Sommernachts-
Können wir wirklich sorglos sein, rein und ohne Furcht? Grelle Hitze wirft uns in die Schatten. Die Sonne ist noch in Weiß gekleidet, ihr Atem liegt gläsern auf der Wiese. Jemand benetzt das alte Klettergerüst mit Wasser, damit sich die Kinder nicht verbrennen. Ja, ich erinnere mich, wir werden Kindergeburtstag feiern an diesem späten Sommernachmittag. Und genau das bereitet mir Sorgen. Ein Grundgefühl, das ich wie einen Karren voller Verdacht und Zaudern mit mir herumschleppe. Manchmal bleibe ich stecken, in den Kratern und Spalten des Bruchbetons, der einst Fußweg war. Ich ziehe die Reste unseres alten Kiddy-Van mit der Festausstattung hinter mir her. Vom Fahrrad ist nicht mehr viel übrig. Von früher ist nicht mehr viel übrig. ›Früher‹ ist ein böser Scherz, den sich Gott erlaubt hat. Nein, ich habe wirklich keinen coolen Draht nach oben. Ich wiege zu viel Sorge, Schuld und Narben. Ich bin schwer, ertrage schwer, bin übrig.
Alisha legt mir die Hand auf die Schulter, leicht, irgendwie froh, und wir beginnen Spielgerät und Decken aus dem Anhänger zu verteilen. Unsere kleine Festgemeinschaft hat den Spielplatz für sich, aus den ausgebrannten Augenhöhlen der Wohnblocks glotzt duldsam nur der Stumpfsinn. Ein geübtes Auge wird freilich unsere Handvoll Aufklärer erkennen, die in und auf den Häusern Stellung bezogen haben und das Areal um den Hinterhof ausbaldowern. Ich sollte also ruhig bleiben, die letzten Schwalben beobachten, nichts suchen. Doch in mir leiert ein schweres Grammophon Arien Enrico Carusos, kocht die Verbitterung auf, eine spitze Dissonanz, ein breiter Schlund, in den aller Lebenssaft und alle Hoffnung rinnt. Ich möchte gerne diesen Himmel anschreien, wer auch immer dort haust, und fragen, wie ich in diesem Zustand meine Kinder lehren kann, ihr Leben und Überleben einem bestimmten Sinn zu widmen. Doch ich fühle mich kraftlos, entsaftet, gedörrt.
Allen Gewalten zum Trotz sich erhalten, nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen, rufet die Arme der Götter herbei. Na fein. Das sagte der Gigant aus Weimar, der zu allem und jedem immer gut reden hatte. Das Schicksal der Menschheit steckt auf einem Bajonett, damit machen sich die Götter nicht die Finger schmutzig. Mein eigenes Schicksal habe ich vom Dachboden meines Großvaters und es steckt in meiner Hosentasche, metallisch abgeklärt, ein willenloser Vollstrecker.
Die Anderen genehmigen sich ein laues Lachen und dekorieren Klettergerüst und Sandkasten mit Girlanden, die sie aus den bunten Fetzen der alten Zeit gebastelt haben. Gustav, mein Jüngster, feiert heute seinen dritten Geburtstag und spinnert ausgelassen durch die Kante. Drei … wie jener Aiman. Der Name bedeutet ›sehr glücklich‹. Aiman war gerade drei Jahre alt, als er im Oberlandesgericht Dresden mit ansehen musste, wie seine schwangere Mutter Sulamith, eine ägyptische Araberin, unter den Messerstichen eines Deutschen russischer Abkunft zusammenbrach. Aiman verstand nicht, aber er spürte die Gewalt, die Gefahr, die Vernichtung an den Pforten seines kleinen Herzens.
„Papa, spielst du mit?“ Benno hält mir einen Federballschläger hin. Ja, richtig, wir spielen und feiern, wir machen ein Picknick heut auf dem Spielplatz, wir setzen Zeichen, oder? Zeichen, die keiner sieht außer uns. Mit einer Taschenlampe die Sonne anmorsen. Ein Akt wohl eher, uns selbst zu vergewissern; obwohl, ein Journalist ist immerhin dabei. Ein komischer Vogel mit einem breitmäulig vor sich hingemuhten ostsächsischen Akzent. Aber klar, die wirklichen Journalisten sind wahrscheinlich schon alle über den Jordan. Wir – nein, Raschid, Tariq und die Anderen haben sich mehr Presse erhofft. Auch der Festschmaus ist nicht gerade üppig. Gute Lebensmittel wurden als Erstes rar nach den Pogromen und der initialen verschwenderischen Welle der Gewalt. Wir besitzen Nudeln, Brot und etwas wie Hummus, hergestellt aus Dosenerbsen. Wir essen einen Geburtstagskuchen aus Knäckebrotmehl und überlagerten Schokoriegeln. Und wir haben deutsches Obst und deutsches Gemüse (Äpfel, Tomaten, Rote Beete), wie es unter hohem Beschaffungsrisiko noch in typisch deutschen Schrebergärten zu finden ist. Deutscher wenigstens, als der Messerstecher von Dresden deutsch war oder Sulamith, sein Opfer, eine orthodoxe Muslima. ›Sulamith‹ ist genau besehen ein biblischer Name. In schönster, naivster Huld gegen die physischen Reize masturbiert das Hohelied Salomos über ihrem Namen: Komm, dreh dich, o Sulamith, dreh dich im Tanze und lass dich anschauen (7,1). Auf die Palme will ich steigen, ihre süßen Früchte pflücken, will mich freun an deinen Brüsten, welche reifen Trauben gleichen. Usw. (7, 9 usf.).
Der Abend nähert sich, in gedehnten Sprüngen tänzelt Hesperus ins Firmament. Das Licht bekommt einen Bart, hauchfeine Nesselarme von Quallen in der Strömung eines Meeres, an dem man die Ferien seiner Kindheit verbrachte. Angenehme Wärme kriecht jetzt aus der Erde zurück ins Licht. Das Rostrot auf dem Schopf des Journalisten schmilzt, während er sich Notizen in sein Handy macht. Ins Dottergelb gestreute Blendenflecke hüpfen über die Magazine der Maschinenpistolen unserer drei Wächter hier unten. Sie stehen herum wie Bademeister, nur ohne Meer.
Ähnlich einem schlechten Traum, verrenkt und gestaucht, war die Veränderung angebrandet, die Deutschland und die Welt durchgemacht haben. Technisch unsauber, das merkte man, und dennoch passierte es. Ein Tsunami entstand an jenem Tag im Leben des kleinen Aiman im Oberlandesgericht. Im Moment des Niedergangs seiner Mutter, im Gerangel schoss ein Sicherheitsbeamter auch den Vater an, da er dachte – na logisch! – der Ausländer sei der Übeltäter. Blutsfehde, Ehrenmord und dergleichen, dabei eilte der Mann nur seiner Frau zu Hilfe. Eine Familie von Märtyrern … Bald darauf wurde in Alexandria eine Straße nach Sulamith benannt. Im Land aber, auf unseren Straßen, bleckte etwas die Zähne: erst das Misstrauen, dann Zwietracht, dann Handgreifliches. Zuerst kamen die Selbstmordattentate, dann die Überfälle auf Dönerbuden und Gemüsehandel. Andernorts wurden Fahnen verbrannt und deutsche Botschaften dem Erdboden gleich gemacht. Gut, das kannten wir ja schon so ähnlich, doch dann ging es massiv gegen Urlauber im Ausland und Ausländer im Inland und alles geriet außer Kontrolle. Das Schicksal des kleinen Aiman und seiner Mutter hat ein Loch ins Bindegewebe der Gesellschaft gerissen. Plötzlich attackierten normale Muslime wahllos ihre Mitbürger, prügelten unbescholtene Väter Kinder anderer Hautfarbe zu Tode. Alles, was wir jahrzehntelang gemeinsam gelebt hatten, mit Mühen und mit Stolz, ging vor die Hunde. Angefangen bei der Wortwahl in den öffentlich-rechtlichen Nachrichten (Durchhalteparolen, auf Kampf gebürstet) bis zur freiheitlichen Grundordnung (Notstandsverordnungen, Standgerichte, Überwachung und Zwangsrekrutierungen). Alles Fadenscheinige ist seither in Auflösung. Was bleibt, ist brutal, ist ein Ozean harter Entscheidungen, mit denen wir Schuld auf uns laden, ist Entscheidung für oder gegen Gewalt, ist manchmal nur ein Reflex in Gestalt von Gegengewalt. Dazwischen gibt es keine Unterschiede, keine Nuancen von Milde, Demut oder gar Philanthropie. Es gibt nur die Seiten. Und auf einer Seite muss man jetzt stehen, irgendwie.
Ich selbst muss wohl eine ganze Ewigkeit vor diesen Ereignissen Alisha, meine Frau, geheiratet haben, ohne mich für die eine oder andere Seite zu entscheiden. Alisha ist Marokkanerin berberischer Herkunft (vom griechischen Barbar) und ich begegnete ihr, als Raschid, der Rechtgeleitete, Vernünftige, mich einmal zum Id al-Fitr, dem Fest des Fastenbrechens mitnahm. Raschid kannte ich gut aus der ehemaligen Uni-Cafete. Das Id al-Fitr heißt auch das Zuckerfest, doch neben allerlei Süßkram gab es damals noch Lammfleischspieße, dazu Harissa, Tahina, frische Kräuter usw. Alisha, Tariqs Schwester, kam auf mich zu, reichte mir Brot und fragte nach meinen Wünschen. Wow! In dem Moment konnte ich nur in ihre Augen sehen, nicht weil sie einen Schleier trug, sondern weil ich Angst hatte, woanders hinzusehen. Perplex wie ich war, bestellte ich ein Bier, ich vergaß sogar, bitte zu sagen. Alisha lächelte. Sie lächelte immer noch, als sie mir einen Saft brachte, ein Granatapfel-Elixier im Kelch ihrer hennaverzierten Hände. Als wir heirateten, musste ich nicht mal konvertieren, auch wenn gewisse Familienteile dies wünschenswert gefunden hatten. Heute ist unsere Hochzeit ein beinah mythisches Echo aus einer anderen Zeit. Habibi-Säuseln modelliert die Luft.
Tariq hat seine Laute ausgepackt, spielt Gnawa-Lieder in Dreivierteltonschritten und singt dazu, hell und doch sorgenschwer. Beladen wie der Ort, an dem wir uns befinden: Derselbe Spielplatz, auf dem Aiman und seine Mama das erste Mal an den aggressiven Russlanddeutschen gerieten. Deshalb auch der Journalist. Er arbeitet, wenn ich mich recht entsinne, für irgendeine Internetseite von Amnesty, die ständig umziehen muss. Alisha erklärt ihm unsere Motive. Gustav und Benno, unsere Kinder, tollwüten unterdessen mit den Anderen über den Spielplatz. Sie krakeelen und schlagen Purzelbäume den kleinen Hang hinab, der in einem Trichter mit Sandkasten endet. Ja doch, wir wollen feiern und gedenken heute auf diesem Stück quasineutralem Gebiet. Ich weiß, aber es bereitet mir Unbehagen. Meine Leute und ich – weltanschaulich gemischt – gehören zum glorreichen, fast ausgemerzten Salam, der letzten Friedensbewegung, die aus dem Bündnis für Demokratie und dem Zentralrat der Muslime in Deutschland hervorgegangen ist. Wir feiern gemeinsam, gedenken, überleben zusammen, eine Weile noch, gleich fällt die Sonne in den Horizont. Der Himmel taucht in zartes Rosa – eine Antwort auf mein Klagen und Zweifeln?
Plötzlich fallen Schüsse! Alisha ruft die Kinder, einer unserer Aufklärer stürzt vom Dach, noch mehr Schüsse, laut und unbeherrscht, dicht an meinen Ohren. Augenblicklich sind unsere drei Wächter hinüber (sie waren Deutsche, ich kenne nicht mal ihre Namen) –
»Schau an, die Multikulti-Ratten. Dreckiges Ungeziefer!«, gellt eine Stimme über den Hof. Fuck-fuck-fuck, die Ultras rücken an!
Tatsächlich marschiert nun ein Corps vom Christnationalen Sturm ein, ordentlich uniformiert, und sichert die Stellung. Die meisten tragen Skimasken, einige auch alte Armeehelme. (Von wegen Entwaffnung nach dem Krieg. Aber auch ich habe Großvaters ›Notpfand‹ dabei, denke ich, und taste mit den Fingern heimlich nach der Verschlusskappe.)
»Nu, Hermann, hier sinn noch de MPs vonne Wächter.« Der also hat unsere Leibgarde auf dem Gewissen. Wie sich herausstellt, ist unser Journalist ein Spitzel. Scheiße! Früher (Nachhall der Äonen) fand ich’s noch lustig, wenn Nazis sächselten. Niedlich fast, so wie man eine Hyänenmutter niedlich findet, die sich um ihr Junges sorgt.
Hermann – sicher ein Deckname – tritt in die Angst unseres kleinen Kreises und mustert die Gemeinschaft. »Wie wollen wir es denn diesmal anstellen, Blaubart?«, fragt er in seinen Rücken und ein Hüne von einem Mann tritt hervor. Er hat zwei riesige Tanks geschultert und hält einen ziemlich guten Nachbau des Standardflammenwerfers FmW 41 der deutschen Wehrmacht in den Pranken. Blaubart verzieht die Visage und erreicht einen Zustand zwischen Dummheit, Gier und Euphorie. »Wir fesseln alle, ficken die Frauen, grillen die Kinder«, dabei deutet er auf seinen Brenner; er nimmt Dieselöl als Flammöl, zumal es länger und heißer brennt und besser am Ziel haftet – »und zum Schluß: BUMM! BUMM! Let’s fetz!«
Hermann verspürt eine väterliche Freude über den Eifer seines Kompagnons, muss diesen aber zügeln: »Nein, Kamerad. Dauert zu lange. Sonst tauchen hier noch die beschissenen Gotteskrieger auf.« Blaubart macht sich theatralisch Luft und hat seinen Groll schon wieder vergessen, als er sieht, wie ein paar der Ultras dazu übergehen, auf unser Picknick rund um den Sandkasten zu exkrementieren.
Blaubart … Ist das nicht ein Ritter aus dem Märchen, der seine Frauen umbrachte und ihre Leichen in einem geheimen Zimmer aufbewahrte?
Das Licht ist jetzt abgekühlter Kristall, eisgraue Reste von Sonne darin gefangen. Ganz im Westen dringt noch ihre Wärme hinauf, ein abebbendes Gebet dort hinten, wo die deutschenfreie Zone der Gotteskrieger beginnt, wo die Bruderschaft ihre Ausbildungslager unterhält. Die Jamaîyat al-ikhwân al-muslimîn, so ihr Name, ihr Symbol auf grünem Grund der Koran, darunter die gekreuzten Säbel der Jihadisten, – die Muslimbruderschaft hatte sich nach ägyptischem Vorbild formiert, bestand aber hierzulande aus Freischärlern und einer Splittergruppe der deutschen Muslimliga. In der Zeit vor dem Alptraum konnten nur deutsche Staatsbürger Mitglieder der Liga werden. Man demonstrierte Verfassungstreue. Aber das hatte sich schnell ins Gegenteil verkehrt, als sich die Bundesrepublik nach einer kurzen totalitären Phase und inmitten der großen Fluchtbewegung auflöste. (Erst brach die Gemeinschaft, dann ihre Institutionen.) Zur selben Zeit befreiten die Ultras den russischstämmigen Mörder der Sulamith aus dem Knast. Er ließ sich feiern und, als der Rummel vorbei war, um die Ecke bringen. Es mögen die eigenen Leute gewesen sein. Seitdem ist alles, fast alles nach links oder rechts gerückt. Die Scheide verläuft schon durch unsere Vergangenheit, mehr noch durch die Zukunft, von der ich nicht mehr sagen kann, ob sie unsere wird. Und links (weil nicht rechts bzw. antinational, dafür islamistisch), dort in der deutschenfreien Westzone wurzeln nun die Schatten, sind länger geworden, immer härter, werden die Stimmen um mich, zu Granit, die Wände einer Grotte ringsher, folgt mein Atem den Wellen eines unsichtbaren Meeres, draußen …
Ich kann nicht ruhig bleiben. Ich sehe die Todesfurcht meiner Söhne Benno und Gustav auf mich gerichtet: »Ist das hier noch unsere Geburtstagsparty, Papa?« Meine Gedanken krallen sich an die Waffe in meiner Hosentasche. Und was will Blaubart von meiner Alisha? Alisha, hohe Frau vom Atlas. Sie steht mit einem der Jungs genau an jener Schaukel, Gott, was hast du für einen grausamen Humor! Es muss die Schaukel sein, natürlich, genau jene Schaukel, auf welcher der russischstämmige Typ saß, als Sulamith ihn fragte, ob er ihr Söhnchen Aiman auch mal schaukeln lasse. Er beschimpfte sie als Terroristin und beschnittene Fotze. Das ging vors Gericht und war ihr Todesurteil. Und jetzt, jetzt erniedrigt dieser Blaubart meine Frau, indem er ihr einen Batzen Dosenerbsenhummus ins Dekolleté schmiert, dieser widerwärtige – !
Gerade will ich auf ihn losstürzen, da greift Raschid, der besonnene Raschid ein, mein Freund, der meinen Hass auffängt, sich immer gegen Gewalt aussprach und just mit Gewalt dem Ultra-Hünen vor die Füße stolpert.
»Was willst du Kanake!«, brüllt der los. »Dich mit mir anlegen?«
Raschid versucht es mit beschwichtigenden Gesten, die dem Blaubart aber zu orientalisch wirken. »Lauf«, flüstert er. »LAUF!«
Raschid stürmt los, Blaubart gibt ihm drei Meter, dann setzt er den Flammenwerfer in Gang. Abgründige Gelüste flackern über sein Gesicht. Die Feuerpeitsche holt Raschid augenblicklich ein, umfängt seine Beine, sein Haar, sein ersticktes Schreien umfängt den Abend, noch einmal glutrot, aber ein Farbton, der jede Grenze überschritten hat.
Meine Schuld, schallt es in mir, und ich starre den Himmel an, der das Echo herab geschleudert. Vom Unglück erst zieh ab die Schuld – was übrig ist, trag in Geduld, sagte Theodor Storm in seiner Welt.
Vielleicht, so eine vage Hoffnung, würde doch noch eine Abteilung der Jamaîyat al-ikhwân al-muslimîn auftauchen. Andererseits stünden wir dann im Kreuzfeuer, wäre das besser? Ich suche Alishas Augen und versuche, an die Kinder zu denken. Sie halten die Hände vors Gesicht und wimmern.
»Du bist hier wohl der Chef«, meint Hermann und tritt ganz dicht an mich heran. Um seinen Hals baumelt die Erkennungsmarke. Neben dem eingestanzten Hakenkreuz enthält sie: Personenkennziffer, Blutgruppe, Vorderseite, und das christnationale Bekenntnis, Rückseite. Hermanns Augen erinnern mich an Schweißperlen auf dem Rüssel eines Schweins. Pfui Schwein! Aber – – habe ich ihm das ins Gesicht gesagt?
»Bastard!«, zischt er und platziert einen kräftigen Tritt in meine Eier. Shit! Der Schmerz rollt scharfkantig durch den Unterleib und strahlt in die Lenden aus. Immerhin, für den Moment eine ungemein intensive Ablenkung. Ablenkung von dem, was unabwendbar kommen wird …
Die Ultras fackeln nicht lange, sie sind aufgeheizt. Die Erwachsenen werden gefesselt, die Kinder aber haben sich auf Geheiß Hermanns immer zu Zweien zu umarmen (rassengemischt so gut es geht) und sich in dieser Position im Halbkreis um den Sandkasten zu legen. In die andere Hälfte des Kreises treten zwei junge Ultras, denen heute die Ehre der ersten Feindstötung zuteil wird. (»Ein bißchen Ringelreihen spielen wir jetzt, ihr Hübschen. Gegen den Uhrzeigersinn, die Zeit läuft ab.«) Die Adepten sollen in mehr oder weniger kleinen Schritten ihre Opfer haschen. Jedes Kinderpaar, das sich nicht schnell genug durch den Kreis (und die Scheißhaufen der Ultras) wälzt oder die Richtung nicht hält, wird erschossen. So der Plan, los geht’s!
Mir ist kalt, ich zittere, ein Fisch im Netz – Ichthys: I‑esous Ch‑ristos Th‑eou ‛U‑ios S‑oter. O Adonai! Lass diesen Kelch an ihnen vorübergehen. Sie sind doch erst–! Alisha fleht in einer anderen Sprache. (Die Kinder– meine Frau–) Trotz der Fessel lange ich mit den Fingerspitzen an die M43 in meiner Hose. (Bin ich mutig? Ich fürchte nicht. Mut beweist jemand, der ein Risiko für einen bestimmten Sinn eingeht. Aber ich sehe keinen Sinn mehr. Der Himmel, den mein Herz anschreit, dort ist kein Gott. Die Welt blickt mit Gleichmut–) Stielhandgranate mit aufsteckbarem Splittermantel aus Gusseisen. (Meine Jungs, und klein Aiman – müssen sie das? Sie sollen nicht viel von alledem ahnen. Sie sollen an Frieden am Ende glau–) Ich bekomme die Abreißschnur zu fassen. (In einen Bürgerkrieg geboren, sind sie ja schon vernarbt–) Der Reibungszünder startet den Verzögerungssatz, noch drei Sekunden.
(Wozu fortsingen das traurige Lied unseres Landes?)
Eins–
(stumpf, ohne Neugier im Geist und ohne Reinheit im Herzen)
Zwei–
(Dunkel senkt sich, vor langer Zeit entschlafen & nimmer erwacht)
Drei–
leicht überarbeitete Version eines Textes vom August 2009