Neulich Flanger
Gerrit Augenmacher notiert das Zittern in der Hand, der freien. Die nicht in der Tasche steckt. Mit der Kippe, wenn er sie an die Lippen führt. Auch schon vorgekommen, dass die Finger verkrampften. Dabei die Kippe weggeschnippt. Zittern. Kann sich, wie er zu gut weiß, in ein Zittern des Kopfes auswachsen. Und eine gleichzeitige Erstarrung. Nur ruhig, nur ruhig Gerrit. Heute naht Lösung. Ein Päckchen Linderung.
Zeitig und kalt der Winterabend, der Himmel, von unten angeraut, flach gelotet von den Tausend künstlichen Sonnen dieser Stadt. Wo alles nah ist und eng, und doch so fern am andern äußersten Ende des Spektrums immer. Irgendwo flattert eine Marquise, wischt eine boreale Windböe über den Schriftzug an der Siemens-Fabrik. Gerrit kneift die Augen zusammen als er an die Kreuzung zur Elsenstraße kommt. Hier ist mehr Licht, mehr Verkehr, mehr Aufmerksamkeit. Das Leuchten, die lasernadelhelle Bohrkraft der Blicke, die sich ihren Weg über den Bürgersteig bahnen, durch die Menge der flüchtigen Begegnungen Gesichter aburteilen, vorläufig natürlich nur, so ähnlich wie man ein ganzes Arsenal an Email-Postfächern nutzt für Kontakte unterschiedlicher Güte. Vorläufig aus Angst, sich zu irren. Neurotisches Misstrauen gegen die Menschenkenntnis. Instinkt unter Diodenschein, parfümierter Seife und Schutzschichten aus Geschäftigkeit versteckt.
Gerrit Augenmacher zieht den Hut tiefer in die Stirn. Er mag das Gefühl eines festen, breiten Bandes um seinen Kopf, es hält ihn zusammen, verschafft seiner Konzentration einen Rahmen, der sie vor Abschweifungen in Randbedeutungen, vor dem Ausfransen in den Interferenzströmungen bewahrt. Ein Nest, das er halbwegs gefahrlos durch die Unbilden der Stadt tragen kann. Die Straße fällt nach Links zum Kanal hin sanft ab, verlischt Richtung Neukölln allmählich wieder im Dunkel, doch sein Weg führt ihn rechts herum. Aus der Sportsbar an der Ecke dringt das Gebell eines Streits, das, indem die Tür aufgeht, auf die Straße purzelt, am Bordstein abtropft und in das Anfahrgeräusch eines Motorrollers und das Vorbeidieseln des 104er Busses sickert. Das Schicksal der Menschen ist ihr Versetztsein zueinander, denkt Gerrit jetzt und stellt sich eine Brandung vor, gespeist von den aus verschiedenen Untergründen gewachsenen Wellen des Begehrens und Wehrens, oder wie Schatten sich in- und gegeneinander verschiebende Frequenzen, Schemen, die im ständigen Pulsieren zufälliger Aufmerksamkeiten gleich dem Durchwandern von Lichtkegeln um Ecken fließen und rußbelegte Mauern auf und ab und um die Laterne gewendelt hinauf oder in Pissesäume geätzt in den Rampen der Tiefgaragen landen, hier verblassen und sich dort wieder aufbäumen … Im Grunde wollen alle Menschen dasselbe, denkt Gerrit, soweit zu den Fakten. Einmal randlos verschwommen, einmal schlagartig. Die Einen schneller, die Andern langsamer, die Einen müde, die Andern aufgeputscht, mal abgekühlt, mal heißspornig, und alles zusammen ergibt ein dicht bevölkertes Spektrum, ein Geschiebe, wo Teile kollidieren, das Wollen gegeneinander aufblitzt, das Nicht-Können grelle Klagen intoniert, Gebären und Entbehren, wo die Farben schließlich gerinnen zu einem labyrinthischen Gespinst und doch auch zu einem untiefen, fleckigen Hertzschimmer, der in dunkle Winkel dringt, der den Himmel über der Stadt absenkt. Eine Glocke, ein gigantisches hermetisches Experiment, verlassen für eine kosmische Kaffeepause – der Demiurg ist nur mal Zigaretten holen gegangen, und wir sind freie Radikale, auf das eigene Belieben zurückgeworfen, gedehnte Herzen, Tausendaugen-Anonymität.
Nässe liegt auf dem Gehweg, knirscht angefrostet. Es riecht nach Stein, Autos und für sechs Schritte nach Zwiebeln auf einem Bett aus Tomate und Teig, von der Pizzeria gegenüber. Auf Höhe des Ausländerblocks ist die Beleuchtung ausgefallen, in der Einfahrt Reste eines Röhrenfernsehers, verbeulte Einkaufswagen und einer der vermutlich letzten Kaugummiautomaten dieser Stadt. Tschetschenen, Albaner, Kurden wohnen hier. Gerrit fragt nicht, ob mit Absicht und wessen Absicht. Die Kinder haben ihm schon einmal sein Fahrrad geklaut, hatte es unangeschlossen vor die Videothek gestellt, und die Jugend vor den Spätis empfindet er als eine Belebung des Straßenbildes, wenn er in Stimmung ist. Im Sommer gibt es alle paar Wochen einen Festumzug mit Schlagwerk und exotischen Blasinstrumenten, Schalmei, Zink, Dudelsack, der zwei Mal ums Karree walzt. Gerrit fragt nicht weshalb, oft ist ihm sein eigener Horizont genug. Aber jetzt hat es ihn doch wieder auf sein ›Gesamtproblem‹ gebracht, wie er es nennt. Gesamtproblem, weil es nicht bloß mit Lisa zu tun hat, nicht nur mit seiner Arbeit. Er hat einen guten Job, der Schreibtisch füllt sich anständig, Kollegen wie überall, ist mit einer erfrischenden Portion Initiative und Kreativität zu bewältigen. Aber … vielleicht wird Gerrit ein halbes Jahr nach Albanien müssen, wegen der Arbeit. Damit hat er ein Problem. Obwohl ja heute niemand mehr ein Problem mit tollen Auslandserfahrungen hat. Ein Teilproblem. Gespeist vom Gesamtproblem: eine chronische Unsicherheit, die ihn auf seinen Wegen begleitet. Mehr oder weniger dominant. Ungebetener Gast, schwankend seine Präsenz. Oszillograph das blanke Zittern seiner Seele, vor der Unbegründbarkeit dieser Angst, pathologisch, seit Leipzig, seine Studienzeit, der alles immer ins Fade wendende Zweifel, periodischer Begleiter seit er Erwachsenwerden von sich verlangte, selbst zu müssen glaubte – ahaber ein Mittel dagegen, heute besorgen … Jedoch will er, was er muss? Was ist es, was Gerrit wirklich will?
Denkt an das Konzert gestern Abend im alten Postbahnhof. Ohrenwind und mehrheitlich ausdrucksscheues Gewippe unter dem manchmal aus der Zwischendecke hervorblitzendem Chrom. Die Raucherinsel ein mit Planen abgedichtetes Muffloch, Heißluftgebläse drehten einem den Atem um. Drei Bands, der Haupt-Act ›Battles‹, live eindeutig ein Erlebnis gegenüber den Platten, die klebrig ins Ohr suppten, einen artifiziellen Pfropfen hinterließen. Die Musik eine Art Techno mit Gitarren, plus handgespielte Drums. Punkattitüde und dazu Laptops (Mac) – Cyberpunk. Die Typen lieferten einen ordentlichen Trip. Als würde man von mehreren Seiten auf ihre Riffs klettern, nicht viel Zeit, die Aussicht zu genießen, das Licht vom Sturm zerrissen, in Cluster oder Fraktale gehüllt, doch dann, nicht plötzlich, fügt sich alles, geht wie ein Gemälde in einer Harmonie auf, von der wir nicht dachten, dass sie harmonisch sein könne. Dem Drummer perlte der Schweiß von den Armen. Wollte Gerrit nicht auch einst Musiker werden? Was hatte seinen Willen durchkreuzt? Weil er nicht überzeugt war, nicht wahr, das Zeug dazu zu haben. Beherrschte seine Gitarre, aber er hatte Zweifel, die Bühne zu beherrschen.
Inzwischen ist Gerrit an der alten Trasse der ehemaligen Bahnstrecke nach Görlitz angelangt, die hier die Elsenstraße auf einem schmalen Backstein-Stahlsträger-Konstrukt überquert und jetzt, eine Jogger- und kotverminte Gassi-Meile, unweit der Hofseiten zwischen Beermann- und Kiefholzstraße und der Ringbahn in einem dürren, hochgestreckten Wettrüsten der Flora endet. Als wulstige Narbe im Dschungel liegt sie unterm Geräuschpegel der Stadt, umzäunt, taub, zerfurcht vom Gezeter der Elstern. Die Biester kennen keine Zeiten, denn sie sind Stadtkinder, immun gegen Lärm und Licht. Oft ziehen ihre Raspelschreie an Gerrits Küchenfenster vorüber, gedehnt und gespannt und durchbrochen, am Küchenfenster, wo ein aus Lockenwickler und Gummihandschuh gebasteltes Katschi nebst Erbsen bereitliegen, knattert der Schwarm herbei, Crescendo, die Tonhöhe schallverkürzt, staut sie sich auf, um im Moment, da sie das Fenster durchqueren, in voller Breite überzuschwappen und schließlich jäh abzufallen und auszunebeln. Vorboten der Autobahn, die hier gebaut werden soll. Gerrit schreitet durch das nimmerbesonnte Pflaster unter der Brücke, lüpft den Hut wieder ein wenig, der ihn zusätzlich beschattet. Blind und ausgelaugt ist das Mauerwerk der Brücke, abgearbeitet und stumpf geworden unter dem Atem von Staub, Wetter, Abgasen und niedergegangener Kohlenasche aus älteren Zeiten. Plakate, die zu lange hängen, werden von der Patina assimiliert. Als ein getunter Opel vorbei braust, muss Gerrit kurz innehalten. Der selbe Effekt wie bei den Elstern. Wieder denkt er an das Konzert gestern Abend, wieder hat er das An- und Abschwellen des Tongebräus im Kopf. Flanger, denkt er, natürlich!, und schnippt seine Kippe gekonnt in einen Mülleimer; drei vier Züge wären noch dran gewesen. Der Flanger – den Effekt kennt er noch von der Gitarre, sein ›Zoom 505‹ hatte da einiges parat. Das Eingangssignal wird in zwei Signalzweige aufgespalten, welche zeitlich minimal gegeneinander verschoben werden, wodurch sich kleine Schwankungen der Tonhöhe ergeben. An- und Abschwellen. Die Überlagerungen, die Interferenzen wandern durch ein variables Spektrum und sorgen für ein dynamisches Klangbild. Eigentlich sind beide Tonsignale identisch, doch durch ihr wechselseitiges Ein- und Überholen, ihr zeitliches Kreuzen verfärben sie den Klang wie nahende und sich entfernende Geschwindigkeiten, ein unstetes Flügelschlagen zwischen den Ohren, ein Pendeln um die Mitte. Flanger. Seit den 70er Jahren populär bei E-Gitarristen, aber vorzugsweise auch in der elektronischen Musik zur Variation repetitiver Muster. ›Battles‹ haben ausgiebig Gebrauch davon gemacht. Ich bin Flanger, denkt Gerrit und geht weiter, wobei er seine Schritte mal verkürzt und mal verlängert. Wenn ich meine Beine unabhängig voneinander … Er strauchelt, fängt sich am Schachbauernkopf eines Pollers, dessen halbgefrorene Glatze wie Klettband wirkt (die Evolution der Dinge), schaut sich um, niemand beachtet ihn. Im nässeschwarzen Gerippe das nächststehenden Baumes zappelt eine Plastetüte.
Gerrits Zunge beult seine Wange aus, während er weiter geht, sind wir nicht alle Flanger? Während wir … zwischen unsern Rollen wandern, Mutter, Sohn, Arbeitnehmer, König Kunde, Geliebte, Notwendigkeit, um unsere Mitte tändeln? Ein Signal, eine einzige Melodie, nicht immer alle Kanäle offen vielleicht. Jeder in seiner Suppe, aus Höhen und Tiefen, treffen wir manchmal den einen Klang, kreuzen den Einklang, reflektieren eins ins andere. Aber eigentlich, strudeln um das – ›Gesamtproblem‹; hier tippt Gerrit Augenmacher seinen Flanger an, nur kurz, sachte: seine Zweifel, was will er? Zweifel, was er will? Er hat einen Job, eine Freundin. Wollte nicht, will etwas davon aufgeben? Nichtwollen, Überforderung? Lisa, wie sie ihren Kopf an seine Schulter legt, nur angetippt. Ihre Wange an seiner, wenn sie hinterrücks umarmt, der Strom ihres Ein- und Aus-, auf seinem Hals, ihr Herzschlag hinter sich, Angst. Unbegründbare, irrationale Ängste, die andere Ängste symbolisieren. Alles symbolisiert einander, es ist bloß Modulation. Nur angetippt … Spielt in seiner Manteltasche mit Papierkügelchen, »Achtung, nur noch 10 Blättchen übrig«, die er in regelmäßigen Anwandlungen von Trotz gegen großstädtische Schmuddeligkeit nicht einfach auf die Straße befördert. Möglicherweise auch, keine Spuren hinterlassen.
Gerrit entscheidet sich, durch das Park-Center zu gehen. Ein kecker Wind kehrt frische Luft durch die Drehtür ins Einkaufszentrum. Socken-Sonderposten versperren den Weg, ein mit Kordeln abgesperrter Weihnachtsbaum überragt die Rolltreppen zur zweiten Etage, daneben harrt ein VW Beatle in abgemagertem Rosenrot dem möglichen Tombolagewinner. Die kleinen, milchglasigen Steinchen in den Blumenkübeln sind festgeklebt, damit Kinder sie nicht, während ihre Eltern noch die Gewürzmischung für den Glühwein besorgen, entwenden und in der nächsten Hofpause nach den Ferien gegen Animationsfilm-Merchandising-Produkte aus Überraschungseiern zu tauschen versuchen, was ohnehin peinlich wäre, es sei denn, sie behaupten, die Steine kämen direkt vom Titicacasee, wo man den Jahreswechsel verbrachte. Niet- und nagelfest. Die Innenausstattung also auf die gesamte Lebensdauer des Gebäudes konzipiert, unveränderlich, allein die Pflanzen dürfen wachsen, sofern sie echt sind. Und dennoch schleichen minimale Veränderungen durch das Park-Center, das Wandern des Lichts mit den Tages- und Jahreszeiten, wechselnde Besitzer der Schnellrestaurants auf der Rotunde oben, kleine Konjunkturen und Rezessionen, immer zwei Aspekte einer Idee. Mister Minute, Schlüsseldienst, Schuhreparatur und Sonstiges. Letzten Winter hatte Gerrit seine Stiefel neu besohlen lassen wollen, weil der Schneematsch sich in seine Socken fraß, aber neue Schuhe waren billiger. Wie konnte der überleben? Drüben, links von der Parfümerie, die Frau vom Tabakladen, die es sich zum Sport gemacht hat, die Musikstile zu raten, die Kunden auf ihren mp3-Playern mit sich führen. Musik …
Das Zittern ist abgeklungen, Gerrit hat es vergessen, ist eingehüllt in das Gleichnis vom Flanger-Effekt, das ihm hilft, seine Eindrücke und Standpunkte mit neuen Farben, mit einer neuen Technik zu zeichnen. Artikulation – von Artikulation zu Artikulation wandeln die Dinge ihr Gesicht. Flanger. Seit nunmehr 40 Jahren wabert der Effekt durch die Musikwelt und massiert uns Hörgewohnheiten ein. Etwas muss er mit den Menschen angestellt haben, ähnlich wie das elektrische Licht, als es in die Straßenbeleuchtung und die Haushalte einzog. Überall ist Flanger, nicht nur auf den Gitarren und Synthies, auch im Schlagzeug. Der Flanger hübscht das Klangvolumen irgendwelcher Pop-Eintagsfliegen auf, die sonst keine Stimme hätten, der Sound sämtlicher Kino-Raumschiffe flangert sogar im Vakuum. Und außerhalb der Musik? Gibt es eine Flanger-Mentalität? Ein zeitlich versetztes, kreuzkoordiniertes Schlängeln um die Mitte? Aber ja, denkt Gerrit Augenmacher. Leben in der Gegenwart, und wollen doch ständig in Vergangenheit und Zukunft blicken. Wir sind zum Zeitpunkt t immer nur ein Teil unseres Spektrums, jedoch nie das Ganze, wir wankeln, torkeln zwischen den Extremen an den äußersten Enden, zwischen Wollen und Müssen, freiem Willen und Prädestination. Überholen uns manchmal, manchmal werden wir eingeholt. Reflexion, passiv, Egoismus, aktiv. Der Handlungsraum. Zeitlich begrenzt, dynamisches Echo über t hinaus. Weitverbreitet, so Gerrit ahnungsvoll, der Flanger zwischen Kontrolle – ich bin wer? ich lebe wie? was hat das Schicksal mir zu bieten? – und Flucht. Vor den entzauberten, kontrollierten Räumen. Hinein in kleine, überschaubare, nicht weniger kontrollierte Reservate. Aus Verrücktheiten, Ausbrüchen, emotionalen Risiken. In dissonante, schmalbrüstige Freude hinein. Abgeseilt neben dem Stützpunkt der Bergrettung. In Gedanken kein Entflammen ohne Löscher. Binsenbrenner. Die Weihnachtsdeko oszilliert, sie, nein wir, wir alle setzen uns Sorglosigkeit auf, die uns am Leben hindert. Und Gerrits eigene Flucht? Ist, ehrlich gesagt, seine Aufgabe für heute. Sein Doping in diesem Tanz, Treffpunkt Ostkreuz. Allerdings: Flangern ist irgendwie beides, die Flucht aus der Realität und die Rückkehr in die Wirklichkeit. Nur was ist die Mitte, das reine Ursprungssignal?
Fast ist er am andern Ausgang des Centers angelangt, betrachtet kurz sein Spiegelbild in der Fensterfront vor McDonalds, prüft, ob sein Hut gut sitzt. Schließlich tritt er doch näher, streift mit den Rücken seiner Finger über die Bartstoppeln an Kinn und Wange. Er bläst die Backe auf, rechts, aber im verschlierten, kontrastarmen Bild der Scheibe lässt sich die ebenmäßige Erhebung nicht erkennen, der linsengroße Leberfleck, der dort hockt und bereits mit elf, lokal begrenzt, so etwas wie Bartwuchs ausbildete. Gerrit kneift die Augen zusammen, die Krähenfüße könnte man ihm als Lachfältchen auslegen, zumal er grundsätzlich als humorvoller Mensch gelten möchte, so!; und weiter mäandert sein Blick zu den Augenbrauen, wo neuerdings ein paar graue Haare prangen, die er mit Stolz zu tragen sich vorgenommen hat. Langsam vertieft sich der Ausdruck in seinem Gesicht, das schiefe Lächeln, und dann sieht er sich direkt ins Auge, Gerrit Augenmacher, du, flangerst mal wieder? Mit einem Mal jedoch bricht sein Blick durch die Scheibe ins Innere und trifft dort, noch halb in der Spiegelung verankert, auf braune Kunstlederpolster drapiert (Quietschen und Füßescharren unter Furniertischchen), von Pommes gefettete Finger und gesalzene Lippen, die Gestalten eines Pärchens, das ihm belustigt zuwinkt. Es durchfährt ihn heiß, schnell verzieht er sich. Schon wieder eine Flucht, fragt er sich, er hätte den beiden einfach zuzwinkern sollen, das wäre humorvoll gewesen, und nimmt noch in der Drehtür einen tiefen, ja einen erschöpften Zug frische Luft. Was war eigentlich das Objekt seiner Angst?
War früher schon schlimmer gewesen, immerhin. Bis zum Angstexzess hatte es ihn getrieben, hatte er im Teilproblem, um- und umgewendet, immer mehr Aspekte anderer Teile gesehen. Wie eine Jacke, von beiden Seiten tragen kann. Umgeschlagen, früher oder später, eine innere Hatz, vor jeder Gehirnregion, jeder Erinnerungsnische, jedem Verhaltensmuster, die er streifte, in seiner Panik einzurennen suchte, Warnschilder: ›Gesamtproblem! Gesamtproblem!‹, nie zu bewältigendes Massiv, nicht wuchs, er schrumpfte angesichts, in den Exzess, die physische Symbolisierung, umgeschlagen. Ja, den Schuh hast du dir selbst angezogen … Einmal, unter Einfluss fluchtverhelfender Substanzen, hatte sich der unsagbare Kern seiner Unsicherheit an einer Supermarkt-Kasse inkarniert. Mit gezücktem Portemonnaie, schon schlotternd, die Hand das Wechselgeld in Empfang nehmend, hochkonzentriert, zitternd noch darauf bedacht, dass keiner was merkt, hoffentlich merkt keiner was! Was soll man denn – ? Das Zittern. Und wieso das Zittern? Aus Angst, dass jemand was – … gefangen! Da durchfuhr es ihn auch heiß. Hatte, an der Kasse eingefroren, Scheu vor jeder Bewegung, die Unwillkürliches provozieren könnte, die heiße Scham, zerebrales Notsignal ganzkörperverteilt, in den Adern stehen. Vor dem Kontrollverlust. Jetzt merkten sie’s! Und dann feuchtes Gefühl in der Unterhose, pure Einbildung, aber doch ganzes Sinnen. Dort, in aller noch aufzustöbernder –, Konzentration, dort schmolz sein Selbstwertgefühl, aus Nichtigkeit zu Nichtigkeit, ließ die Angst kommen, ergab sich dem Versagen. Am Ende war er nach Hause gerannt, die Tränen nur vom Gegenwind zurückgehalten, nach Hause, in linderndes Alleinsein, zur Tränke fluchtverhelfender Substanzen, eine gedankenstillende Dosis, oder zwei. Mit der Angst auf engem Raum, jedoch ein Stückchen in die Distanz geflangert. Das Ganze ist eben irrational, denkt Gerrit, sind auch bloß Symbole, die psychotischen Tupfer, Löcher in der brandigen Seele. Und es hatte sich deutlich gebessert, seit er Lisa hatte, und einen festen Job. Aber war das seine Entscheidung gewesen?
Gerrit schwenkt wieder auf die Elsenstraße Richtung Strahlau. An der dem Querstraßenzug gestirnten Seite des Cinestar hängt immer noch das Plakat vom letzten Harry Potter-Film aus dem vergangenen Sommer. Der Abend ist ein Teppich aus Arealen, die weder hell noch dunkel, er wird von einem Wetter zusammen gehalten, das weder warm noch kalt, nur die Nässe friert, und wohin das Suchen, Beobachten und Schweifen sich auch wendet, es gibt weder nah noch fern, die Stadt schlürft gierig das Licht der Laternen, metallisch, steinern, gläsern, himmellos. Und jetzt ist es wieder da: das Gelichter der Blicke, ihre Harpunenschüsse und das Geschlängel der Halteleinen hintendrein, auf dem Gehweg, Netze, die sich seltsamerweise nie verheddern, aber denen Gerrit in seiner namenlosen Scheu auszuweichen versucht, beherrscht von dem Gefühl, anders wahrgenommen zu werden, als er das selbst gern hätte (warum?), was in einem einzigen abgründigen Moment umzuschlagen vermag in die Furcht, überhaupt gesehen zu werden. Diese Angst, denkt er jetzt, die Angst, falsch aufgefasst zu werden, nicht Jedermanns Blick zu genügen – everybody’s darling –, sie resultiert vielleicht aus einem mehr oder weniger Bewusstsein, nicht selbst entscheiden zu können, sich selbst nicht auszufüllen, das mag es sein, weil er seinen Handlungsraum nicht bewohnt. Ein Symbol für die eigenen Ansprüche. Jedoch der Flanger-Effekt, beruhigt Gerrit sich, ist nicht das nur Negative. Flangern ist ein Nebeln, von uns ausgeht. Wir schwanken um unsere Mitte, wir tanzen um die Selbsterkenntnis. Wird nachmoduliert, justiert. So wie wir uns verändern. Periodisch nah an der Lösung. … Albanien – Lösung. Lisa – Lösung. Angst vor Lisa &/oder Albanien? &/oder (wird meist zusammengedacht) vor der Lösung? Zuerst ist ihm an ihr ihr Haar aufgefallen, mit seinem satten Honiggelb, süßkirschenrote Lippen dazu … Die Lösung heute am Treffpunkt Ostkreuz, vorerst. Treffen mit seinem Dope-Kumpel Herrn Brose. Von Studienzeiten her, aus Leipzig, nennen sie sich mit ihrem Nachnamen, tun es gern. Und Gerrit trifft sich gerne mit ihm.
Am Eingang des Kinos wuchern Plakate von Helden in eine heldenarme Zeit. Comic-Heroen in aufgeputschten Farben, zusammengeklitschte Adaptionen antiker Mythen, schön in klare Dimensionen gepflanzt, wo Freund-Feind sich schon auf die Entfernung einer Mittelstreckenrakete am bloßen Geruch erkennen, spätestens, die Bösen hässlich, missgestaltet, die Guten so sauber es geht, allenfalls geschmückt mit etwas Hedonismus, aber im richtigen Moment bereit, die entscheidenden Schlachten (Battles) zum Erhalt einer Welt auszufechten, die in Wirklichkeit viel tiefer und weniger einfach ist und sich schon weit im Postheroismus befindet. Auch hier erkennt Gerrit den Flanger, das große Flangern des Zeitgeistes, der Zivilisation, zwischen Ideal und Wirklichkeit, rise and fall. ›Echte Demokratie jetzt!‹ ja klar, das sagt schon alles. Was für Helden sind wir nur, wir können uns eigentlich nicht beklagen! Nur weil wir alles für möglich halten, wollen wir auch alles erreichen. Aber wir widerstehen den Ansprüchen nicht. Überfordern uns. Doch vielleicht ist gar nichts möglich und alles, was geworden ist und wird, das Ergebnis einer zufälligen Division durch Null? – Eine Flucht zu den Helden, die wir nicht sein können …
Und deine Flucht, Gerrit Augenmacher? Sein Gesicht verfinstert sich. Es fing schon früher an, im Gymnasium, aber seit Leipzig wurde es zur Gewohnheit, gemeinsam mit Herrn Brose, sich durch Seminare zu kiffen, Trips aneinander zu reihen, ihr Schlachtruf: Doper an die Wissenschafts-Front! Bis es ihm mehr und mehr schwer fiel, Referate zu halten, frei zu reden, daran zu glauben, dass selbst die Profs nur mit Wasser kochten … Er ließ sich auf Vorschläge ein, ersann Kompromisse, aber Initiative wurde ihm lästig. Das Leben schön, wozu weiter hetzten? Bewunderte Herrn Broses Umgang mit der Sache. Wenn der das kann … Mischung aus Vorstadtprolo und gewitztem Greis, kaltschnäuziger Draufgänger, mit Integrität und stets aufs neue überraschender Klugheit gepaart, kommt er ihm vor, immer noch. Wie ein freches Sonntagskind, dem das pralle Leben zufliegt. Nur hat er sich jemals gefragt, ob Herr Brose etwas dafür tut? (Routiniert weicht Gerrit einem Pulk Fußgänger aus, die vom S-Bahnhof Treptower Park herbei strömen.) Bislang als Frage der Einstellung behandelt. Ängste, Entscheidungen nicht selbst treffen zu können? Angst davor, sich zu entscheiden? Elliptisch und elegisch. Dieses zu mildern naht die Lösung, mit Herrn Brose am Ostkreuz. Ein Gefühl von Sicherheit, aber … Gerrit beginnt, erstmalig ernsten Herzens, nicht nur, weil andere predigen, daran zu zweifeln, die Kiefer aufeinander gepresst, den Hut nun bis auf die Brauen herab gezogen, weil das Band um die Gedanken an Spannkraft verliert, die Dosis von Zeit zu Zeit zu erhöhen ist.
Die Lichter einer abfahrenden S-Bahn werfen Filmstreifen auf die schmucklos sich über die Puschkinallee legende Brücke und auf die Fahrtrasse hinter dem Gartenmarkt, schneiden mit 19 bis 24 Bildern pro Sekunde Stücke des Schattens aus, schleifen sie mit, doch manchmal, so scheint es, bleiben einzelne Einstellungen haften, zerhäxelte Sequenzen auf dem Schotterbett, Szenenschnitte auf Einsenbahnerschildern, deren Sinn sich ohne Kenntnisse nicht erschließt; vielleicht eine an der Scheibe gekühlte Stirn, die Mimik eines mit Enthusiasmus geführten Gesprächs, die suchenden Augen eines Feierabendlers, der mit Bier versehen noch eine Runde auf dem Ring dreht, bevor er nach Hause muss, wäre vielleicht lieber woanders, von der Firma in ein fernes Ausland beordert, wo seine Arbeit anderen Wert hat, sein Geld mehr zählt, wo es andere Regeln und andere Frauen gibt, wo die großen Zeitströmungen anders auf unsere Hertzfrequenz wirken. Wer weiß. Kleine und große, gleichzeitig geschehende Begräbnisse und Taufen. Gerrit konnte sich, anders als bei der Straßenbahn, nie entscheiden, ob er die S-Bahn mag oder nicht. Elektrische Hegemonie auf Stahl, Strom auf Schiene, ein merkwürdiges, blindes Anschleifen und Knirschen, eine dieser scheinbar rückwärts gewandten Liaisons zwischen beinahe virtueller, digitaler Führerschaft und physisch-mechanischer Arbeitsverrichtung. Wie eine Akademikerin, die auf dreckigen Workout-Sex mit ölverschmierten Fabrikarbeitern steht (gibt’s das nur in der Phantasie?), wie der, der Flanger-Effekt mit seinem originalen Basissignal und den inzwischen digital modulierten Interferenzen. – Wie schön eigentlich, glaubt Gerrit da, dass wir noch an die Physis zurückgebunden sind. ›Zurückgebunden‹, die wahre Bedeutung des Wortes religo –
»Entschuldigen Sie, junger Mann«, dunkle, grausam scharfsichtige Augen sehen ihn an, das dichte, zwirnhafte Haar eine weiße, windflüchtige Lohe. »Hier in der Nähe soll es einen Lidl geben?« Der Mann ist nicht groß, er trägt seinen Mantel offen, eine Taschentuchspitze lugt feinsäuberlich aus der Brusttasche seiner Weste. Die Hände hat er auf dem Rücken verschränkt, saubere Schuhe, etwas Glamouröses in der Erscheinung und – fragt nach einem Lidl? »Der Lidl, Moment…« Gerrit schürzt die Lippen. »Sie gehen die Straße runter, etwa 600 Meter, folgen der Hauptstraße nach Rechts und biegen an der nächsten Ampelkreuzung nach Links. Dann sehen Sie schon den Lidl.« »Danke«, antwortet der Alte mit einem seltsamen Akzent, aus einer unbekannten Provinz im Westen der Republik möglicherweise, oder ganz aus dem Ausland. Er schenkt Gerrit ein geübtes aber verbindliches Lächeln, in dem kurz ein Goldzahn aufblitzt, und schlendert davon. Gerrit ist irritiert, er spürt eine Diskrepanz, die er nicht einordnen kann. Will der Mann tatsächlich zum Lidl? Gerrit wusste von Spaziergängen, dass hinter dem Supermarkt in einem weiteren charakterlosen Funktionsbau aus den 90er Jahren nicht nur ein Fitnessstudio beheimatet ist, sondern offenbar auch Räumlichkeiten für Hochzeiten genutzt werden. Hochzeiten von Leuten mit Migrationshintergrund, am Ende ist der Alte sogar ein Albaner gewesen, ach, verdammte … – ! Jetzt hat er ihn zum Netto, nicht zum Lidl geschickt, der liegt doch vor den Kleingärten südlich in der Kiefholzstraße. Gerrit dreht sich um, der Mann ist schon halb am Kino vorbei, erkennbar sein Schemen am Schlendern, soll er ihm hinterher?, nun, der Weg ist lang, sicher fragt der Alte noch einmal nach, was soll’s.
Durch die Fußgängertunnel kann Gerrit nun die Platanen auf der anderen Seite der Puschkinallee sehen, den ganzen Juni und Juli über hatten sich Grünflächenpfleger auf Hebebühnen an ihren Wipfeln zu schaffen gemacht, mit dem Ergebnis, dass die Bäume zunächst einem geplünderten Topf Basilikum glichen. Kahle Strunken säumten die Straße, gleichfalls leer, wegen Vollsperrung. Jetzt hängt in den Bäumen am Park ein Himmel wie alte Tinte. Dann versperrt der S-Bahnhof Treptower Park die Sicht, überstrahlt mit seinen Imbissbuden und Neonröhren-Ketten das Restdunkel. Am Snackautomaten auf dem Bahnsteig kann man neuerdings, erinnert Gerrit sich, auch Schwangerschaftstests ziehen. Er blickt auf die Uhr, genügend Zeit bleibt, warum nicht bis zum Ostkreuz laufen? Laufen entspannt, und die Straßen sind leerer als die S-Bahn. Weiterlaufen, entscheidet er, wobei ihm aus dem Absickern seiner Gefühle, dem verstohlenen Deckeln der Aufmerksamkeit dämmert, dass Weiterlaufen eine Nicht-Entscheidung ist; drückt sich vorbei an hastigen, schweißgetünchten Menschenströmen, am grell illuminierten Bistro (ulkigerweise nennt es sich ›Liliput‹, besitzt aber für ein Bistro schon anwesenhafte Ausmaße), am Buschwerk vorbei, in dem immer noch Knallerbsen hängen, mattweiß und aufgedunsen in den Abend blinken. An der Bushaltestelle vorbei, gedehnte Schritte, Geräuschfetzen in den Ohren, linkerhand der Treptower schief in den Himmel gerammt, mit versetzter Perspektive, Echo starrt von dort herab. Die saugende Öffnung des Fußgängertunnels, wattiertes Gelb, Windelgelb, stets in einem Durchgangszustand, verhaftet, ein Gebäude das aus der Tiefe, in die Tiefe, Maulwurfs-, aus der Hüfte die Mauer voll, Kleisterhaft, Plakate für Ü31-Parties, so was! Wieso jetzt nicht mehr Ü30? Bin auch Ü31, erwachsen werden (kein geschützter Raum mehr), aus Kindern werden Leute, nicht wahr? An der Zeit, aus Taten, etwas darzustellen, will ich das? Sein Job, seit einem Jahr eine feste Anstellung, und Lisa. Gerrit weiß nicht, warum, aber manchmal stört ihn ihr Robben-Lachen, bringt sie lieber nicht zum, Lisa, die, wenn sie reden, oft ihre Handflächen nach oben hält, Zustimmung signalisiert, wenigstens Konsensfähigkeit, ein Regen von Möglichkeiten in einem Augenblick. Nur zu greifen bräuchte. Lisa seine Freundin, mit der er nicht weiß wie es weitergeht, weil das Gefühl, es sei ihre Entscheidung. Ja natürlich, möchte er ankommen, möchte eine Familie, Kinder haben, eines der Päckchen, immer gleich eingeschlagen in das knisternde Papier der Furcht. Nur wieder verlieren zu können (wieder?), nicht zu genügen. Durch Trennung, ein Autounfall, durch äußere Gewalt oder innere Machtlosigkeit, vielmehr. Der alles immer ins fade wendende Zweifel. Entliebung und Versuchung durch längere Auslandsaufenthalte, arbeitshalber, doch auf welcher Seite? Ein Teil ins andere geworfen hat er Probleme?
Gerrit inzwischen auf der Elsenbrücke angelangt. Eine breit ausgestreckte Asphaltzunge, leichte Steigung, zum Gaumen hin, von wo er kommt, ein pelziger Geschmack aus dem Fluss, wenn die Luft in Bewegung ist, kalt, süßsauer, wie abgestandener Kohl. Gleich dem Holzstäbchen des Onkel Doktors ragt flankenseits die Querung der S-Bahn von Rachen zu Rachen, gesprenkelt mit Bagger und Schienenkran, die entweder die Krankheit sind oder sich an ihr zu schaffen machen; eine Frage der Perspektive. Ein Zug rattert vorbei, in einen Schwipbogen aus Stahl gezwängt, und die Schwingungen, die man mit der Schuhsohle auf den losen Nähten der Betonsegmente besonders verspürt, sorgen dafür, dass Gerrit zu seinem Gleichnis vom Flangern zurückkehrt wie in eine Umarmung, und nur ahnenden Auges sieht, wie tauartiger Nebel von der Spree unter die Brücke greift, die Konturen schluckt, die letzten Farben austrinkt. Menschen flangern, memoriert er, das haben sie sich aus der Musik angeeignet, oder es der Musik übereignet, symbolisch, eine Konterperspektive. Das Leben ist eine Partitur, eine Komposition aus Zufällen, die uns zu Stellungnahmen rühren, unsere Affekte ein- und aufwecken wie kribbelnde Koloraturen in den Gliedern, wie wütende Paukenschläge, ein Wiegenlied aus rieselndem Sand, ein unerwartetes
Telefonklingeln. Tastet, hastet, fingert nach der Innentasche, der Linderungsbeschaffer meldet sich. »Hey, grüß dich, Herr Brose, ich bin schon auf dem Weg.« Gerrit hat ihn deutlich vor sich: das breite Gesicht mit der kleinen Brille, an der Grenze zum Vielzuklein, der schon etwas kahle Kopf, savannengleich von Rotbüschen bestanden, wie Herr Brose Anekdoten von alten Studienkollegen berichtet, zu denen er noch Kontakt pflegt, unterdessen mit dem Stinkefinger die Brille aufs Nasenbein schiebt und sich ein Loch in den Bauch freut über alles, was der – mitunter diebischen – Freude oder der Begeisterung wert ist.
»Schön schön, Herr Augenmacher, ich freu mich. Allerdings solltest du was wissen…« Die Temperatur ihrer Gespräche ist stets vom ersten Wort an aufrichtig und herzlich, wie es eine gute Männerfreundschaft – »Ich verkaufe nicht mehr, ich bin raus.«
»Wie?« Der Schreck springt Gerrit in den Nacken und beißt sich fest, eine fiese Bazille. »Du bist ausgestiegen, von gestern auf heute?!«
»Ja … wie denn sonst?« Ein Wehen, ein Rauschen in der Verbindung, unendlich nahe und ferne Interferenz. »Und? Treffen wir uns trotzdem? Oder kommst du jetzt nicht mehr?« Gerrits Partitur ist von Glockenschlägen beherrscht, die Alarm läuten. Wo soll er jetzt –? Die Lösung, mittellos? »Ey, Herr Augenmacher?«
»Äh, ja. Klar komme ich. Bis nachher …« Aufgelegt.
Gerrit ist heiß geworden, schaut sich um, zwei Radfahrer in seiner Richtung, duckt sich vor denen weg, sonst nichts, Autos. Und nun? Soll er in den Görlitzer Park oder in die Hasenheide? Spüren, geschärfte Antennen: die Krankheit in sich aufsteigen, das Zittern, kehrt wieder, erst schleichendes Kommen und Gehen, vertraut, kann es kaum noch modulieren! Zuerst wieder die Hand erfasst, mit dem Ring, ja der Ring, verspieltes Silber, hat er nicht von Lisa, zwei Freundinnen vorher. Zeit zum Entfernen, findest du nicht? Hilft nichts aber, seine Gedanken lassen sich nicht aus dem Spektrum des Gesamtproblems hinaus dehnen, sie schnellen – überdehnt – hierhin zurück: Doping für seine Angst, Drogen-Drohen, Drogen-Dräuen, nervöses Augenzucken zum Phänotyp, gehört jetzt auch, nur ruhig, Gerrit, ruhig, steck die Hand in den Mantel, wo sie zappeln kann. Herzbrand, die Finger frierbrandig, wird stärker … Oh Gerrit, das Flangern, versucht er zu denken, ist es angesichts der möglichen Zustände (im Fall der Angst?) ein Mechanismus oder eine Technik? Da stehst du, erschauert, vorm Flanger-Diptychon, suchst in der Mitte die Erlösung – von wegen! Allgemeingültige ANGST! Durchfährt ihn, zunächst in kleinen Wellen, ringförmig aus einem ihm verborgenen Erregungszentrum seines Körpers. Tropft in ihn wie ein Wort in sein Denken der Satz das eingedampfte Konzentrat aus einer zu lange geöffneten Flasche. Die Neige eines –. Schwappt immer höher, strudelt, rüttelt alles, was wahr, ist, fließt unter ihm fort. Weicht einer einzigen Entität, nichts neben sich duldet, ANGST, flutet, brandet, zündet, schießt in sämtliche Fasern seines Körpers ein, Gift, ihn verflüssigt und zugleich erstarren lässt! Gerrit gibt sich Mühe, versucht, sich wegzudenken, wenigstens eine Außenperspektive, aber das hilfreich? Da ist die Panikattacke! Er sieht sich, sich ganz als Krampf / und immer das Wort, Angst, allein das Wort schon! macht Angst / ganz Krampf und Fratze sieht er sich, stellt er sich vor, ist / weist über das Konzept hinaus oder zurück auf den zum Tumor verwachsenen Instinkt, Trümmer eines Urvertrauens, scharfkantig / spastisch verschobener Kiefer, Hyper-, Speichel / seine grausamsten Gedanken öffnen sich wie Springkraut am Wegrand, schießen kreuz und quer / Augen nach innen verdreht, gekehlte Verzweiflung / missleuchten ihm, Bekenntnisse auf den Lippen seines Gedächtnisses / Zerrung der Mimik, kann, er sich selbst nicht leiden – - – ?
Und hier, auf dem Höhepunkt, am völlig verdreht, schier hockenden Gerrit Augenmacher donnert nun – recht knapp vom Bordstein – der 104er Bus doppelstöckig vorbei, reißt ihm der Luftzug den Hut vom Kopf, der umstandslos in die Spree segelt, im Halblicht unten, reflektiertes Nachtschimmern, wo er Wasser zieht und in die Oberfläche einsackt, unter die Brücke und stadteinwärts Richtung Oberbaum treibt – und oben auf der Elsenbrücke, im unbehüteten Gerrit Augenmacher, keimt da plötzlich eine Offenheit, eine ausgestreckte Weite der Dinge und eine Entspannung, dass er alles gemächlich, jedoch wach, von allen Seiten betrachten könne; ein Zustand, von dem er irgendwie wusste, dass er kommen wird, denn es ging ja nicht darum, den Weg zu finden, man muss den Weg auch gehen, das ist die Kür. Schafft er das? Tragen nicht alle so ihre Schlachten mit sich aus? Streben alle nach demselben Ziel, flangern, denn es ist ein und dasselbe Signal, nur gegeneinander verschoben, innerlich und interhuman. Er malt sich aus, im Fahrtwind des Busses wäre ihm auch ein zweiseitig beschrifteter Zettel an die Brust geflattert: auf der einen Seite eine durchgestrichene Einkaufsliste mit Dingen, die jemand kauft, der viel an sich arbeiten zu müssen glaubt, auf der anderen in einer anderen Schrift: Ich liebe Dich … Vielleicht ist es besser so, denkt Gerrit Augenmacher jetzt, schließt seine Augen und sackt zusammen. Aus Ehrfurcht vor der Gewissheit.
Es geht mir gut, ich bewohne mich, seit einer Ewigkeit wieder. Denn hier, zum Zeitpunkt des Kreuzens sind wir uns am nächsten, ist der Effekt am vollsten, unser Handlungsraum am weitesten in alle Richtungen begehbar. Hier ertragen wir die ganze weithin sichtbare Schärfe/Intensität/Fülle unserer Existenz, sind wir fähig zu entscheiden und Landmarken zu setzen, an denen wir uns im Abdriften orientieren können, uns in die Alltagswelt zurücktasten mögen. Erstaunlich, findet Gerrit, die Vielfalt der Perspektiven, auch der eigenen auf Selbsterlebtes. Zustände, die ineinander überfließen, und die Freiheit, die wir haben, ist, uns nicht zu betäuben sondern unsere Zustände zu kennen, zu reflektieren. Alles symbolisiert einander. Das Schicksal der Menschen ist ihr Versetztsein in sich? Nein, ihre Chance ist, sich versetzen zu können. – Flanger.
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