Neulich die Revolution
Es gibt nicht nur Fußball, es gibt auch noch die Revolution. Ja, die Revolution, mit Klassenkampf, mit schön ebenmäßigen, geradezu monochromen Feindbildern und mit dem Ziel der totalen gesellschaftlichen Umwälzung. Zumindest traf ich gestern ein paar Jungs an einem der Kaulsdorfer Seen, die eine ziemlich klare Vorstellung von Revolution hatten. Das heißt nein, das stimmt nicht. Sie hatten keine klare Vorstellung von der Revolution selbst (und schon gar nicht von der Welt nach der Revolution), indes sie artikulierten immerhin einen klaren Willen zur Revolution.
Junge Leute, die unbedarft (und unbehelligt) beim Lagerfeuer am See sitzen, Bier saufen und mit Piercings und Tatoos posen wie unsereins seinerzeit mit Autokarten (‘n Piercing im Ohr zählt nicht als Piercing, Intim-Piercings hingegen doppelt), und die parallel dazu klagen, wie schlecht es dem Lande gehe und in was für einem weiß-ich-wie-bösen Überwachungsstaat wir leben – das hat etwas von jenem unzivilisierbaren Trieb, jener mehr oder weniger schöpferischen Wut gegen das eigene Erwachsenwerden. Ich persönlich bin weder mit Piercing noch mit Tatoo bestückt, ein krasses Alleinstellungsmerkmal aber kein Stigma, da diese Leute ja nicht intolerant sind, und so gehörte ich gestern Nacht jener Truppe an und wir quatschten kopfloses Zeug über Gott & die Welt. Eigentlich mehr über die Welt, weil Revolutionäre gemeinhin Atheisten sind, wobei religiöser Eifer und Ideologiehörigkeit recht besehen in der gleichen Liga tanzen, doch ist das ein anderes Kapitel. Die Geschichte kam jedenfalls so:
Mit Freunden hatten wir – ganz nach Art 30jähriger Global-village-Familien – den Abend in einem Kleingarten verbracht, erlesene Speisen internationaler Couleur auf den Grill gehauen und uns das kleine Finale der Fußball-WM angeschaut. Als die Gesellschaft sich schließlich zerstreute, lag eine Heimreise von circa einer Stunde vor mir, von Kaulsdorf am beschaulichen Ostrand Berlins bis ins spreeseitige Treptow. Und wahrlich, schön ist’s auf dem Rad in lauen Sommernächten! Das Spiel war akzeptabel gewesen, mein Alkoholpegel war es auch, es roch nach Kornfeld, unten blubberte der Beton von der Hitze des Tages, oben waren Sterne in den Himmel geschmiert. Salziges, brillierendes Dunkel lag zur Stadt hin ausgebreitet, sammelte sich, sichelförmig, an den Säumen ihrer Lichter. Ein evakuierter Augenblick zwischen den Tagen. Warum also nicht? Ich schnappte mir noch ein Bier und machte einen Abstecher zum See, wo mich überaus reges Treiben empfing. Feuer loderten fleckenweise auf, helle Mädchenstimmen klirrten über die Wasseroberfläche, hin und her, von einem Ufer zum andern. Nackte Gestalten huschten an mir vorbei, nasse Badehosen, die über Schenkel schlackerten, unklar bleibendes Klatschen von Körpern und Gesprächsfetzen. . .
Ich setzte mich zuerst zu einer Gruppe Russen ans Lagerfeuer. Ja, schon wieder die Russen. Aber ich kann wirklich nichts dafür, sie waren einfach da. Ein Wodka-Kola-Gemisch kreiste, bernsteingelber Schein wedelte über die mehrheitlich wohlgenährten Körper der Frauen und Männer. »Hast Du Feuer, Großer?« Klar, hatte ich & reichte mein Benzinfeuerzeug weiter. Eine Bekannte nannte es mal ›Russenauto‹, weil es wie ebensolche rieche. Aber ich glaube das stimmt nur, würde ich es auch mit russischem Benzin befüllen. Ansonsten wollte das Gespräch nicht richtig in Gang kommen, und als die Leute zum nächsten Badegang ansetzten, zog ich weiter.
Ich landete schließlich in Gesellschaft einiger Punks oder Emos oder irgendwas; die Diversität der Jugendkultur freilich verweigert sich mittlerweile dem Schubladendenken. Sie hatten am Ufer ein kleines Zeltlager errichtet, brutzelten Würstchen auf Alu-Asietten und nuckelten am Markenbier, die Mienen vom Feuer messinglegiert. Von Zweien hab ich die Namen vergessen – sorry Jungs. Dann waren da noch Robert, der einen Koks-Entzug hinter sich und einer seiner Exfreundinnen zwei Braten in die Röhre geschoben hatte, die er jetzt nicht sehen durfte, ferner der typische, bebrillte Dicke in der Runde, der angepflaumt und zum Bierholen geschickt wurde, seinen Platz aber auszufüllen wußte, und Sani, ziemlich klein, blond, ziegenbärtig – ein bekennender Bisexueller. (»Du legst Dich entspannt auf die Seite und läßt Dir was reinstecken, das tut nicht weh…«Es klang zärtlich, wie er das erzählte… »Nee, trotzdem danke.«) Sani war obendrein einfacher Vater und bemühte sich um das Sorgerecht, und er war derzeit mit Sponti liiert, dem einzigen Mädchen in der Runde, viel zu jung und viel zu aufgedreht, als müsse sie der ganzen Welt was beweisen. Allesamt waren sie zwischen 20 und 25, und allesamt waren sie stolz auf ihr Potpourri wechselnder Sexualpartner, vielleicht versuchten sie auch, mich dadurch einzuschüchtern, aber naja…
Sani berichtete (nicht ohne standestypischen Dünkel), daß er schon wieder irgendein Verfahren am Hals habe, weil er auf einer Demo mit Pfefferspray und Schlagstock im Rucksack erwischt worden war.
»Warum?« Ist ja schon irgendwie vorhersehbar, oder?
»Um mich zu verteidigen.«
»Wogegen?«
»Gegen Feinde, Mann.«
»Was denn…« Ich konnte mir nur schwer vorstellen, was das ist, ein ›Feind‹. »…was denn für Feinde?«
»Na Nazis & Bullen!«
»Ach so…«
Derundder Neger nämlich, den sie neulich an einer Bushaltestelle ins Koma geprügelt hatten, der würde nämlich heute noch ganz normal durch die Straße spazieren, hätte er nämlich eine Waffe zur Selbstverteidigung dabei gehabt. Ja klar. Und niemand würde dem Anderen etwas zuleide tun, nicht wahr, liefe ein Jeder mit seinem persönlichen Atomsprengkopf im Rucksack herum. Ich polemisierte. Sani behauptete unbeirrt, daß er wenigstens für seine Sache kämpfe und sie verteidige: die Revolution nämlich.
Tcha, und hier stand es nun mitten im Raum, dieses schwere, blutige Wort, das wie kein anderes Gerechtigkeit propagierte und Ungerechtigkeit provozierte. Uiuiui. (Von samtenen, orangen, karierten oder Tulpen-Revolutionen mag man häppchenweise absehen.) Die Menschen seien doch nicht grundlos unzufrieden, fuhr Sani fort, die Leute wüßten nur noch nicht, daß es die Revolution ist, die sie brauchen und wollen. Schwierig sei die Mobilisierung, zugegeben, aber schließlich habe Che Guevara auch bloß mit 60 Mann angefangen –
»In Kuba oder in Bolivien?«
» – und guck, was in Kuba draus geworden ist.«
Eben. »Meinst Du, daß dort Andersdenkende im Knast sitzen?« Ich glaubte nicht, daß die Menschen insgesamt (also in einer für eine Revolution unabdingbaren kritischen Masse) unzufrieden seien mit der Gesellschaft und versuchte, den Jungs so etwas wie Respekt nahezulegen vor Leuten, die sich für Kapitalismus und Materialismus entschieden hatten und dafür, in der bestehenden Konstellation unserer Sozietät mitzuspielen und so ihr rechtschaffenes Auskommen zu finden. Respekt hieße ja dann auch, sie für mündig genug zu halten, daß sie sich selbst eine Meinung über die Revolution bilden und (!) gebildet haben.
Nein… Die Nacht stand an ihrer Wende, entweder sie drehte sich einfach um oder sie würde uns ins Bier gegossen, trinkt Genossen, trinkt aus! Nein. Meine Kumpanen wollten ihr Programm abspulen und ich weiß durchaus zu schätzen, daß ich es mit (zwar naiven aber) ehrlich gemeinten Agitationen zu tun hatte. Nein, es sei nötig zwecks Abschaffung der Klassenunterschiede nämlich und der materialistischen Bedürfnisspiralen, daß alle Welt den gleichen Fernseher bekomme, das gleiche Auto, die gleiche medizinische Versorgung und, u-und…
»Das gleiche Gehalt?« Für unterschiedliche Verantwortung und Profession? Hierarchie gebe es schließlich immer, und unterschiedlicher sozialer Status drücke sich unterschiedlich aus. Ich hatte mich eine Zeitlang mit den antiken Sklavenaufständen befaßt, ein paar Episoden um Spartacus und andere, welche die marxistische Geschichtsschreibung gern für ihre Zwecke glorifiziert hätte. Nur gab es einen gewaltigen Haken an der Sache: Die Sklaven betrieben ihren Kampf für die eigene Freiheit, nicht zum Wohl aller Sklaven, und einige errichteten in den okkupierten Gebieten mal eben private Monarchien, bevor der Moloch Rom sie wieder schluckte. Hm. Aber das Argument konnte ich getrost beiseite lassen, denn die Jungs waren mittlerweile dazu übergegangen, die Abschaffung des Geldes zu fordern, um den täglichen Bedarf über Umsonstläden, Selbstversorger-Gemeinschaften und Tauschhandel zu decken. Ich mußte mich fragen, durch ein kleines perfides Loch im Vorhang meiner kynischen Seele hindurch, was bitteschön meine Gesprächspartner eigentlich tauschen wollten? Pfandflaschen?
Zumal ich mir bewußt bin, daß unsere Welt bestimmt nicht 100%tig perfekt ist, plädierte ich also dafür, mal die Gleichmacherei sein zu lassen, multiple Lebensentwürfe zu akzeptieren und lieber mit Veränderungen in den eigenen, kleinteiligen Seinsprovinzen zu beginnen: Lieb zu den Nachbarn sein, die Zigarettenkippen in einen Ascher zu tun statt sie ins Gebüsch zu schnipsen, Fairtrade zu kaufen und Zivilcourage zu zeigen, selbst wenn es Migrantenkinder sind, die auf dem Spielplatz die Zöglinge der mitteleuropäischen Spätgebärer tyrannisieren. Und wie eine Religion hat auch diese Art von ›Revolution‹ einen sakralen, einen hierophantischen Nimbus, ist eine Art Religion des Idealismus. Es gehe doch um ein Umdenken im Kleinen, darum, die Welt im Kleinen zu verändern, allerdings tatenreich im Gegensatz zu bloßem hochtourigen Gelaber. Ein Freund tat kürzlich in anderem Zusammenhang den Ausspruch, daß ab einem bestimmten Alter zählt, was man ist und was man faktisch darstellt, nicht was man labert und welche Luftschlösser man bauen kann. Aber in dem Alter waren meine Gesprächspartner bestimmt noch nicht. Und noch etwas bereitete mir Sorgen: Nominell war ich mit meinen zarten 30 Jahren nicht wesentlich älter als sie. Es ist gar nicht so lange her, da bin ich mit einer Spraydose bewaffnet durch eine andere Stadt gezogen und habe Sprüche pro Toleranz, Umdenken und Humanismus auf Wände und Bürgersteige gesprüht. (Einen Schlagstock jedoch hatte ich nie im Rucksack.) In einem schläfrigen, traumseligen Fach meines gutbürgerlichen Schreibtischs lauert übrigens ein Skript. Es soll eine Geschichte werden über das Entstehen und die Dynamik einer ›Religion des Idealismus‹. Oppression, Guerilla und Straßenschlachten inbegriffen. Noch traue ich mich nicht, dieses Buch zu schreiben, wer weiß warum. . .
»Willst Du ‘ne Wurst?«
»Nein danke, ich bin satt. Ein Bier vielleicht?«
Sättigung. Auch unser Gespräch hatte seine Behäbigkeiten und Durchhänger, einer der Punks und das Sponti-Mädchen gingen zu Bett. Aber schließlich wollten sie nun doch wissen, was ich denn eigentlich darstellte, und ich stellte mich als Schreiberling und gelernter Althistoriker mit Nebenverdienst im Callcenter vor. Wie sich erwies, war der Dicke an griechischer Mythologie ›interessiert‹, na und da schien er bei mir ja an der richtigen Adresse zu sein. Doch o weh! anstatt sich konstruktiv mit mir zu unterhalten und dabei einen gewissen Lerneffekt abzuschöpfen, betrieb er nur kurz namedropping, um etwas von seinem Halbwissen zu demonstrieren: Es habe doch bestimmt Leute gegeben, die die alten Titanen verehrten, so wie Kronos oder Gaia, nachdem sie sich von den Olympiern abgewendet hätten. Kintop! Als ich ihm erzählte, daß ich Filme wie ›Troja‹ (»Das hat doch nichts mit den Göttern zu tun.« ?? »Na bei Homer schon.«) oder ›Kampf der Giganten‹ nicht gut fand, und eben ansetzte, ihm die politischen Implikationen mythologischer Schichten zu erklären, da verlor der Dicke urplötzlich sein Interesse. Komisch. Die Jugend von heute.
Dickerchen war derselbe Typ, der kurz darauf meinte, die Jugend von heute sei zu nichts zu gebrauchen. Verblüffend, nicht? Selbst zählte er keine 25 Winter und war gerade krank geschrieben wegen Muskelkater vom Malern, faule Sau! Nachdem ich einen kurzen aber heftigen Zustand totaler Verwirrung überwunden hatte, entgegnete ich, daß genau sie, wie sie da neben mir saßen, doch die Jugend von heute seien! Die Jugend, die sich ihrer Tatoos rühmte und ihrer außerpartnerschaftlich gezeugten Kinder und ihrer Fickgeschichten und-..
Nein, so könne man das nicht sehen, der Dicke wieder, er habe doch noch die gute alte DDR erlebt.
»Mit fünf?«
Jedenfalls halte er das Pionier-Sein in der DDR für eine gute Sache, weil wenigstens die Jugend Disziplin gelernt habe bei täglichem Appell und so weiter. »Guck Dir doch die Jugend von heute an.«
Wie bitte?! Hier ist nun wirklich etwas faul im Staate, kam mir der Gedanke! Allein das Wort ›Disziplin‹ aus dem Munde eines Anarchisten roch gefährlich nach Verirrung. Zum andern wäre es mir ein absolutes Novum gewesen, wenn er als maximal 5jähriger sein blaues Pioniertuch verliehen bekommen hätte. Da saßen also diese Typen zwischen 20 und 25 Jahren und behaupteten allen Ernstes, die BRD sei ein ebenbürtiger Unterdrückerstaat und grundsätzlich seien von der DDR doch rund 70% völlig in Ordnung und gut gewesen. (Zahlen sind immer gut.)
Unglaublich! Mir hebelte es die Kinnlade aus! Bin ich denn schon so alt? Ich hatte die Wende als 10jähriger im Schlepptau meiner Mutter mehr oder weniger aktiv miterlebt, hatte die Spannung auf den Demos empfunden, auch die Furcht in den Gesichtern der Leute, die Furcht vor sichtbarer und unsichtbarer Staatsmacht, auch das, was sie antrieb, mitempfunden, was sie ihre Plakate in die Höhe heben und sich bei den Händen fassen ließ. Auch die Enttäuschungen nach der Wende habe ich erlebt. Ich war Pionier, Wandzeitungsredakteur, Thälmann-Pionier später, ich wurde gehänselt, weil ich Christ war und als Einziger von den Jungs nicht zur NVA wollte. Klar hatte ich auch Altstoffe gesammelt und im Klassenverband Briefe an Nelson Mandela geschrieben, und klar war die Zeit der langen Arbeitslosigkeit nach der Wiedervereinigung kein Zuckerschlecken für unsere Familie gewesen. . . Aber jetzt lümmelten da diese Lausebengels neben mir, Wessis wie Ossis interessanterweise, und erzählten mir was über die gute alte DDR! Mann! In den Nachrichten und Feuilletons hörte man ja hin und wieder von der grassierenden Verharmlosung der DDR, aber ihr ins Gesicht zu schauen, sie im Widerschein des Feuers aufschwimmen zu sehen wie Fettaugen aus der Geschichtssuppe, DAS war… …empörend, das geb ich zu.
Natürlich wollte ich weit ausholen, um zu begründen, daß man die BRD und die DDR überhaupt nicht vergleichen konnte. Die DDR war eine Diktatur, wahrscheinlich habe ich das nicht oft genug betont oder es bestand kein Einvernehmen über die Bedeutung des Wortes ›Diktatur‹. Ich erzählte von den Spitzeleien, von der alltäglichen Repression. So war es meiner Mutter ein Anliegen, daß ich eben drum Pionier wurde, damit ich mir nicht die Zukunft verbaue, wie es ihr ähnlich geschehen war. Das Leben im Schrott des Alltags mit diesen Anpassungen an die Diktatur, mit den geheimen Gedanken, das machte den Unterschied. Ich erzählte auch die Geschichte, wie zwei Stasi-Offiziere bei uns zu Hause auftauchten, nachdem Bekannte von uns in den Westen abgehauen waren. Meine Mutter versteckte die Unterlagen vom Neuen Forum zwischen unseren Spielsachen und litt Höllenängste. Daß sie in den Knast und mein Bruder & ich ins Heim kommen. Sie rief meinen Vater an, das Knacken in der Leitung, dann das tote Telefon, fast zeitgleich klingelte es an der Wohnungstür. Nachdem sie wieder fort waren, suchten mein Bruder und ich nach Wanzen – Kinder, Kinder.
Einer der Punks berichtete, wie es bei ihm auch völlig normal war, nach Hausdurchsuchungen die Wohnung nach Wanzen abzusuchen – und, das fügte er einige Millisekunden zu spät an, auch welche zu finden. Herausfordernder Blick mit Stahlaugen, die noch nie etwas wichtiges zu verlieren hatten.
»Klar gibt’s in Deutschland Lobbys,« gestand ich ein, »und ein bißchen Scheindemokratie, Plutokratie, ein paar unfaire Episoden usw. Aber wir leben in einem Rechtsstaat.« Dafür erntete ich freudloses Gelächter. Wahrscheinlich weil ich mich im falschen Milieu bewegte und keinen Schimmer hatte von den Konfrontationen, die man sich zuzieht, wenn man den Staat umstürzen will und also als potentiell gefährdendes Element verbucht ist. Andererseits besteht in diesem unserem Staat die Möglichkeit, die Gesellschaft nach offenen, fairen Spielregeln von innen heraus zu verändern, was in der DDR erst unter dem Druck der Wendezeit hätte gelingen können, wiewohl ja alles schnell und anders kam. Die DDR war ein Unrechtsstaat, und diese Grünschnäbel gestern am Seeufer, diese Revoluzzer kapierten nicht, wie gut es ihnen ging. »Meinungsfreiheit und Informationsfreiheit zum Beispiel.«
Ha, jetzt schaltete sich der ziegenbärtige Sani wieder ein und legte sein Feindbild vom ›Überwachungsstaat BRD‹ dar. So waren seine Eltern nämlich verhaftet worden, weil sie an einer Sitzblockade gegen den Truppenübungsplatz neben seiner Kita teilgenommen hatte. (Nun, es gibt ähnliche Dinge, für die ich mich auch verhaften lassen würde, doch ist die Polizeigewalt nicht die Instanz, bei der man Veränderungen erreicht, denke ich. Wo genau sein Punkt des DDR-Vergleichs war, überlege ich noch.) Und ganz einfach, von wegen Informationsfreiheit, so Sani weiter, ich solle doch mal im Internet bei Google ›Militante Gruppe‹ eingeben und auf den Informationslink vom BKA klicken. Spätestens nach einer Woche nämlich stünde das BKA höchstselbst bei mir vor der Tür, würde eine Hausdurchsuchung exerzieren und ich hätte 198-Verfahren an der Backe, was immer das ist.
Also das hielt ich nun komplett für eine Urbane Legende! Tut mir leid, aber das war nicht glaubwürdig. Ich wollte es ausprobieren, versprochen; in der Folge ergab sich eine Wette zwischen Sani und mir (ein Kasten Bier). Ein kleiner Revoluzzer-Gedanke kam mir auch: Wenn die Legende stimmen sollte, wäre es ja mal lustig, wenn verabredet 1000de Leute auf die Seite gingen und das Bundeskriminalamt nicht wüßte, wo es mit seinen Hausdurchsuchungen anfangen sollte. Die Paranoia der Behörde gegen ihre Bürger ins echte Licht gesetzt, warum hatte das noch keiner der vernetzten Autonomen angeleiert?
Die Diskussionskultur unserer Runde ließ mit fortschreitender Stunde leider immer mehr zu wünschen übrig, mich eingenommen. Wir ließen uns nicht ausreden, wurden hitzig, verschleimte Argumentationsbrocken stopften den Fluß, Fakten- und Pseudofakten-Geschachere, Themenwechsel… Es fielen häufiger anachronistische Schlachtrufe wie der nach der Arbeiterklasse und ich wollte vergeblich zu einer Begriffsanalyse zum Thema Schicht/Milieu/Klasse ansetzen. Vielleicht hätten wir die Russen von vorhin nach der Revolution und dem Klassenkampf befragen sollen, und zu welchen Ranken oder Ränken die lange unterdrückten Klassenunterschiede sich in Rußland mittlerweile vergeilten. Permanent sah ich mich von Fallbeispielen umzingelt, die zu veri- oder zu falsifizieren schier unmöglich war. So unmöglich wie eine einfache, emotionslose gesellschaftstheoretische Debatte.
Zigarettenrauch klammerte sich an die Wimpern und Feuerqualm netzte die Klamotten. Na und irgendwann war die Luft einfach raus, die Jungs wollten langsam in die Zelte kriechen, ich den Heimweg antreten. Im ersten zarten Anlauf des Morgens besiegelten wir noch einmal unsere Wette und ich verabschiedete mich.
»Hast ‘ne coole Einstellung,« meinte Robert, der zwiefach entzogene Vater noch zu mir. Fast hätte ich gesagt, das kommt mit der Zeit, aber das wäre nur ein wehmütiger Nachklang von etwas gewesen, das ich einst selbst gewesen sein mochte.
Schön war’s mit dem Rad in der lauen Sommernacht! Wie friedlich doch die Stadt dem neuen Tag entgegen träumte, ganz und gar unprätentiös. Auch die Gestalten. Ich begegnete einer Frau in Begleitung zweier Typen, einer links der andre rechts, und die Frau, die lachte, als wolle sie unbedingt von beiden den Mund gestopft bekommen, Ihr wißt schon, womit, warum auch nicht. Ich radelte, hörte dabei exzellente Musik via mp3-Player und grinste in mich und das rosa gescheckte Morgengrau hinein. An einer Ampel winkten mir zwei Mädchen zu und einen Moment spielte ich mit der Vorstellung, sie wollten mich ins Gebüsch zerren und einen doppelten Liebhaber aus mir machen, warum auch nicht. Ich bin bloß zu verpeilt in solchen Dingen, also fuhr ich weiter und ließ mich von Devendra Banhart verzaubern (Cripple Crow). Devendra ist stockschwul, als Musiker verehre ihn sehr, warum auch nicht. Ich bin überzeugt, daß wir in Deutschland in einem freien Land leben. Bindungen haben die Menschen in der Hauptsache untereinander, und das ist auch gut so. Wer Kinder hat, hat Bindungen, wer eine Partnerschaft hat, Freundschaften ebenso. Und dafür müssen wir Beständigkeiten schaffen und selbst beständig sein (ist das schon konservativ?). Alle anderen Freiheiten und kleinen Ausbrecher bleiben davon unberührt.
Freiheit und Selbstbestimmung haben wir doch in einem guten Maß, da finde ich es (mindestens global gesehen) schon ein bißchen dekadent, nach der Revolution zu rufen und zugleich seine Arbeiterklasse wegen einer läppischen Krankschreibung im Stich zu lassen. – Dürstet es sie nach großen Taten, nach ein bißchen Krieg, nach großen Linien in unserer Zeit?
Und Leute, hier im Blog gibt’s ‘ne Kommentarfunktion, Gegendarstellungen sind willkommen. Viva la revolución! Jedem seine, nämlich. Und ich schreibe irgendwann ein Manifest des Nicht-Manifesten. . .
Bleibt mir nur noch, meine Wette einzulösen, was ich hiermit tue. Natürlich habe ich ein wenig nachgeforscht, was es mit diesem BKA-Link über die ›Militante Gruppe‹ auf sich hat. Es handelte sich um ein getarntes Info-Angebot der Behörde, das die IP-Adressen Interessierter fischte, um sie auf einer internen Terrorverdachtsliste abzulegen. Wirklich unschön! Das hier ist die in Fachkreisen sogenannte ›böse URL‹:
http://www.bka.de/fahndung/personen/tatkomplexe/militante_gruppe/
Leider ist die Seite beim BKA deaktiviert worden, nachdem die Sache ans Licht kam. Na bitte, die Öffentlichkeit (die res publica) funktioniert doch noch, nur schade für die Wette. Wer sich zum Thema einführend belesen möchte:
http://www.gulli.com/news/bka-eigene-website-ber-2007-10-01
http://www.herrschendemeinung.de/index.php?/archives/239-Militante-Gruppe-Die-boese-BKA-URL.html
http://www.tagesspiegel.de/politik/deutschland/der-falsche-klick/1057184.html
Da ist dann auch eindeutig zu lesen, daß zwar IP-Adressen gesammelt wurden, aber daß man nicht mit einer Hausdurchsuchung rechnen kann. Eine echte urban legend also. Besuchen wird mich demnach keiner. Außerdem ist die Festung des BKA gleich bei mir hier in Berlin-Treptow um die Ecke, da bin ich schneller mit einem Besuch, selbstverständlich ohne Farbbeutel oder Pfefferspray im Rucksack. Ein Taschenmesser habe ich allerdings immer einstecken…
Um sicher zu gehen, habe ich noch ein paar andere Seiten geklickt, die mir möglicherweise eine Hausdurchsuchung einbringen könnten. Hier eine Auswahl:
http://einstellung.so36.net/de/militante_gruppe
http://www.anarchie.de/main-62975.html
http://militantegruppeleipzig.wordpress.com/
Natürlich werde ich Sachen wie ›BKA‹, ›böses BKA‹, ›Militante Gruppe‹ und ›Revolution‹ für diesen Blog verschlagworten und entsprechende keywords eintragen, vielleicht bringt das ja was, aber ich fürchte nicht. Meinungs- und Informationsfreiheit, ich frohlocke, daß es Dich noch gibt! So wie ich das sehe, habe ich einen Kasten Bier gewonnen, na Prost! Und Sani: ich habe Deine Telefonnummer…
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