Neulich bei Jackos Obduktion
„Jetzt laß doch mal die Nase, das ist irgendwie albern, weißt du.“ Dr. Augustin wollte die Inspektion der Leiche diesmal so schnell wie möglich hinter sich bringen. „Also, wo war ich? …Grad der Totenstarre…“ Er neigte sich dem Diktiergerät zu, während Halogen seine Glatze in Weißgold-Ornat erleuchtete. „Ernährungszustand normal, Hautkolorit. . .“ Tja hmm, Hautkolorit indifferent.
Kollege Hammer, hatte beleidigt getan und silbrige Geräusche in Stahlwannen fabriziert, hielt inne: „Ohmeingott! Sogar sein Schwanz ist weiß.“ Black Or White tönte kurz in seinen Gedanken auf und verebbte im ausschwingenden Tzzzz von ‚Schwanz‘. Schlafende Titanenhaut bedeckte den leblosen Körper, eingefroren in reinem, ursprünglichem Schauder, an gewissen Stellen rissige Adern im Alabaster, die in polymorphen Muttermalen mündeten. Dr. Hammer gedachte der eigenen Pigmentflecken am Hinterteil, die er mit dem Handspiegel vorm Kleiderschrank umständlich orten oder eben fotografieren mußte, wenn er sie betrachten wollte. Jedesmal ein bißchen wie Bleigießen an Sylvester. . . Man In The Mirror.
„Etwas mehr Respekt bitte,“ echauffierte sich Augustin und meinte die Pietät, die ihn selbst dazu veranlaßte, ständig etwas Grandioses vor Augen zu haben, Fanfaren vielleicht, ein wenig Weihe, wie ein lautes Gebet. „Verdammt, wir haben hier den letzten Großen auf dem Tisch liegen.“
„Seine sterbliche Hülle.“ Hammers Worte erstarrten in klinischem Hall, sanken ab in den Halbschatten unter dem Sektionstisch, trockneten ein und warteten die Zeit aus, bis die Putzkolonne erscheinen würde.
In der Tat war auch Augustin seltsam ergriffen – fast kann man sagen spektakulär abgestoßen – von dem, was Michael mit seinem Körper angestellt hatte. Ist schon komisch, doch das Fleisch auf dem Tisch legte keine klare Kunde ab, alles Gewebe schien Chiffre zu sein, dunkel & dezentral sich dem Zugriff entwindend, das Orakel einer leidenschaftlich bizarren Körper-Geist-Beziehung. Oszillierender Frequenzwechsel. . . Dr. Augustin kam zu dem Schluß, daß dieser Mann mit sich und seinem Körper sehr allein gewesen sein muß. (Leave Me Alone…) Auf der Suche nach Ursprung und nach Abwechslung hatte er sich provoziert, mit Haß und übermäßiger Liebe, hatte er seinen Leib in Projektionsfläche verwandelt, die Glieder ins Schizophrene gespreizt. Bizarre Masken überlagerten einander, jede ein Gußabdruck der Epochen seiner Seele. Aber… „was zählt ist doch, daß er so viel bewirkt hat, nicht nur für die Black Community. Und seine Musik! Mag man davon halten, was man will, ihr Einfluß ist unbestritten. Michael war ein Idol, eine Ikone.“ Die Stirn mit kleinen Schweißperlen betaut, Luftschnappen. „Und zwar die Letzte!“
„Quatsch.“ Hammer widersprach eigentlich prinzipiell, um sich anschließend zu überlegen, warum. „Kann ja sein, daß Jacko der Letzte war, um den so ein Zirkus gemacht wurde. Aber es gibt doch immer noch große Stars und Ausnahmemusiker. A-außerdem sind die Menschen heute mündiger, musikalisch zumindest. Sie schmeißen sich nicht mehr so einfach einem Star an den Hals, wie zu Elvis‘ Zeiten. Die Menschen und die Musik sind multipler.“
Dr. Hammer war um ein paar schüttere Haare jünger als Augustin. Beide wendeten jetzt den Leichnahm auf den Bauch, um mit der dorsalen Beschauung fortzufahren. Sie dokumentierten, was sie fanden. In der Wand saugte ein Ventilator die Gerüche ihrer Arbeit an. Professionelle Blicke huschten durch ihre Mienen, blanke Reflexionen über die wuchtigen Medizinschränke auf der Stirnseite. Als ebenmäßige Hügelketten ragten die Wirbel aus dem toten Körper, spannten die Haut in Schattierungen von der Farbe feuchten Zements, den Rücken hinab, bis… – ja ist denn das die Möglichkeit?! – bis irgendwas entgleiste. War das dort wirklich ein USB-Anschluß, der aus einer Hautfalte zwischen Anus und Hoden hervorlugte? Schnell war der Leichnam an einen Laptop gestöpselt, keine Frage. Der eingebaute… tcha, der ‚Datenträger‘ nannte sich All I Ever Made und enthielt die komplette Packung Michael im handlichen mp3-Format. Während die Herren Pathologen also mit der Nekropsie fortfuhren, erfüllten auch schon die Hits des `82er Knüllers Thriller den sterilen Raum. Billie Jean stampfte durch matte Lichtflusen, Falsettjauchzen leckte über die Fliesen. Derweil ging man zur inneren Besichtigung des Körpers über, die Schädelhöhle war jetzt an der Reihe.
„Übernimmst du das?“ fragte Augustin.
„Geht klar.“ Dr. Hammer legte sich das Hirnmesser bereit, zog die Kopfschwarte ab (flupp!), umsägte säuberlich die Kalotte und setzte schließlich den Flachmeißel an. Beat It, Beat It… Hammer mußte daran denken, daß ein paar der großen Musiker des 20. Jahrhunderts noch ganz fidel waren, und daß er bei ihrem Ableben vielleicht eine Kerze im Fenster anzünden würde. Aber auch, daß er in wohltemporierten Abständen neue Musiker entdeckte, in deren Fall er sich das Ritual gleichermaßen vorstellen konnte. Sollte er sie überleben. . . (Gone Too Soon)
Mittlerweile waren in Augustins Gemütshorizont vollends violette Streifen eingesickert, nostalgisches Kondensat (Das war noch Musik, die vom Hocker riß!), alle nachfolgenden Spektren damastartig verhängend und übermusternd. „Multipel meinst du, ist die Musik heute?“ nahm er ihren Gesprächsfaden wieder auf. „Ich sag dir was: sie ist weniger multipel als… beliebig. Genau. Beliebigkeit ist das. Alles was stilistisch machbar ist, wurde schon ausprobiert. Die Musik kennt doch nur noch meditativ wiederholte Ehrwürdigkeit – Klassik wird gravitätischer, wenn sie mit historischen Instrumenten aufgeführt wird – oder halt Rekombination, der Genres und Elemente, hohle Bastarde. Ist doch alles nur Mimesis, total fixiert.“ Hob den Finger. „Es wird nichts Neues mehr geben, glaub mir. Aber hör dir das mal an.“ Wußte nicht, ob er auf den Laptop oder Michaels rektalen Anschluß deuten sollte. „Was ER gemacht hat, so was wird’s nie wieder geben.“
Klar war das mit Jacko irgendwie tragisch, dachte Hammer, klaubte das gute „Virchow“, sein Lieblings-Autopsiemesser, vom Tablett und setzte zum maximalinvasiven Eingriff an. Aber hey! Flugzeugabstürze waren auch tragisch, mindestens. . . Dr. Hammer gab sich trotzdem Mühe, einen besonders akkuraten Medianschnitt hin zu zaubern, von beiden Clavicula am Sternum sich vereinend bis hinunter zum Schambein – ein großes, serifenloses Ypsilon für dich, Jacko. Musik gehörte dazu, ganz ohne Gewese, und Hammer bedauerte die Musikgeschichte genaugenommen für nichts. Wobei… Heal The World schnulzte gerade aus dem Hintergrund.
„Hast du mal die Retraktoren?“ Augustin setzte die Rippenspreizer an, welche die Brusthöhle aufhielten. Bei der Bauchhöhle war weniger Gewalt erforderlich. Hammer wollte mehr sehen, auch vom systematischen Argwohn seines Kollegen: „Es gibt also nichts Neues mehr, soso. Das ist schon öfter behauptet worden. Und was war mit der Dodekaphonie, minimal music, und und und?“
Alter Sektierer. „Bloßer Purismus, nur eine künstliche Beschränkung der Ausdrucksmittel.“
„Kunst?“
Dr. Augustin tupfte seine Glatze. „Das ist Intellekt, aber keine Musik. So wie wenn dem Raum zwischen den Tönen das Knistern, das Weiterwollen fehlt, der… der – wie sagt man? …Esprit.“
Hammer staunte nicht schlecht über seinen Kollegen (und es machte ihn froh). Augustin war richtig sentimental, und das wirkte möglicherweise infektiös.
Die Organe in der Leiche jedenfalls sprachen dasselbe orakelnde Idiom wie zuvor die äußere Körperhülle. Auffälligkeiten an Jackos Leber und Nieren wurden dem Band diktiert, Gewebe- und Sekretproben zwecks toxikologischer Untersuchung entnommen. So ging alles seinen Gang, wenn auch nicht den gewohnten, hätte nicht Jackos Musik höchstselbst mit einem Mal ihre Aura gewechselt wie ein Kostüm. Bebende Cluster expandierten im Raum, bauschten kleine Klangwelten auf, an den Rändern ausgefranst, wattierten sie Skalpelle, Silberbesteck und die Sittenstrenge des Ortes. „Kenn ich gar nicht, von IHM,“ wunderten sich die Herren aus einem Munde. Der Laptop zeigte einen Ordner Private Secrets an – na und das war ja mal was Unerhörtes! Ein verborgenes Vermächtnis!
Alles Klingen dieser neuen Musik war scheinbar nur Koloratur, eine immer tiefere Berührung, Schicht um Schicht, und plötzlich kamen Rhythmus und Melodie ins Spiel, nein, das heißt, sie waren längst da, aus wehenden Bordüren und tanzenden Voluten hatten sich Motive und Themen geformt. Einfach jede Vibration strebte nach Einlaß & Ausdruck in einem großen Ganzen. Wow! Diese Musik klang – das hört sich jetzt vielleicht komisch an, war aber so – sie klang, roch und fühlte sich an wie Liebe. Die Gerüche tausend befriedigter Frauen, Seufzer tausend erlöster Männer brausten auf die Hörer ein. Keine Spur von getrimmter Harmonie, von Scham oder Manierismus. Augustin und Hammer wurden zu Zeugen der Befreiung aller Disharmonik, oder anders, der Befreiung des Ohrs, wie sie es (beide) nicht für möglich gehalten hatten.
Sie schafften es gerade noch, Jackos Leichnam halbwegs anständig wieder zu verschließen, während der Song, der Choral, das Stück Tongewebe oder was, sie durch liederliche Intervalle zu betören suchte. Ergreifende, kleine Hüpfer, vorfreudige Pulse stimmten sie allmählich auf die Instrumentalisierung ein. Ahnungen materieller Inkarnationen schallten nach innen in die Körperhöhlen der Pathologen hinein. Nekromanten, bizarres Musikwollen strich durch die steifen Korsagen eures befliesten, vom Licht entreizten Arbeitsplatzes, archaische Lust blähte eure Kittel und Hosen. Mehr als das.
Hammer raunte: „Das ist geil, hey!“
Augustin dachte: Geil ist, wenn eine schöne Frau unverhofft nach deinem Hosenschlitz greift, um deine Erektion zu betasten… A-aber genau das schien hier zu passieren! Ohne Frau. Die Musik selbst zeugte eine neue Erscheinungsform von Sex, James Brown war dagegen frigide! Eine Form von Onanie um genau zu sein. Musenküsse raubten Dr. Augustin den Atem, der Atem, mit dem er dagegen anfechten wollte. Gegen die Entflechtung von Ästhetik und Ethik. . .
„Ist doch Porno! Ketzerei!“ rief oder lallte Augustin noch, doch schon ganz körpertrunken, liebesflammend, richtete er seine Sinne auf das Vollkommene, das notwendig jede konstruierte Räson sich unterordnete. . . (Unethisch, weil keinerlei Reflexion mit der Außenwelt mehr stattfand.) Schließlich taumelte er in die Arme einer fast frommen Inbrunst, geleitet von der Erkenntnis, daß just diese Musik aus dem Arsch der Ikone dem Menschen immanenter und angemessener war als alles, was homo sapiens bislang an Lautäußerungen zuwege gebracht hatte. Bravo Michael!
Was folgte, war Sex, Masturbation in allen ungekannten Spielarten. Geräuschsäulen, geschraubte Wellen Perkussion, harmonische Interferenzen. Süßer Kontrollverlust. Endpunkt eines Crescendos tiefenphysiologisch tönender Liebkosungen. Dr. Hammer und Dr. Augustin hatten zu tanzen begonnen wie Derwische, sie bekamen Arien in den Muskeltonus, dramatische Zuckungen. Jetzt waren sie beide der Star, und jenes Gefühl war es, das ihre Körper zu einem einzigen Organ komponierte – ein Hypergenital. Glühende Zehenspitzen & Ameisen in den Lenden. Hammer spürte, wie unter anderem seine Ohren eine Erketion bekamen (jawohl) und sich der Same endlos knospender Rezeptoraktivität in der Eustachischen Röhre staute. Augustin strömte es aus der Nase, und überall fühlte er eiserne Bänder von seinen Gliedern bersten. Die Musik türmte sie zu einem gigantischen Schwellkörper, die beiden Mediziner waren mit sich und ihren Körpern allein, jeder für sich, und erschöpft von diesem Glück. (I Just Can´t Stop Loving You)
Im delirierenden Zustand letztgültiger Hingabe endlich kam es ihnen… kam es ihnen vor, als habe sich auch Jackos Leichnam erhoben und aale sich im Tonraum (soweit das USB-Kabel ihn nicht hinderte). Als moonwalke ER zwischen den gestandenen Herren, räkelte und suhlte sich wie sie in den Tönen. In der Wonne trieften sie vor Dankbarkeit, o unversiegliches Füllhorn!
Ein Kurzschluß in der Pathologie war das Ende vom Lied.