John Berger - A und X
»An einem bestimmten Punkt geht jeder Schmerz in das Wort NEIN über, bevor er seinen weiteren Weg nimmt. Genauso wie jede Freude in das Wort JA fließt, bevor sie weiterzieht. Zu Dir sage ich JA; zu dem Leben, das wir zu führen gezwungen sind, sage ich NEIN. Ich bin stolz auf dieses Leben, stolz auf unsere Taten, stolz auf uns. Und wenn ich daran denke, werde ich zu einer dritten Person, weder Du noch ich, und auch Du wirst zu dieser dritten Person – jenseits von Ja und Nein!«
Dieses Buch ist wie ein Stück Schokolade auf dem Fensterbrett, ein Schaukelstuhl vor Eisblumen, dahinter halbschattige Winterlandschaft, unschuldig weiß, aber mit einem Schaudern oder Zittern darin, heimliches, sogar furchtsames Verblauen hinten.
A’ida (A) schreibt – über Jahre hinweg – Briefe an ihren Liebsten Xavier (X), der als Widerständler von einem totalitären Regime inhaftiert wurde, lebenslänglich. Ihre Worte sind süß, sanft, manchmal dunkel & schwer wie Schokolade, beinah immer aber sind sie beseelt von einem unerschütterlichen Glauben an die Liebe, von unmittelbarer Nähe zum Leben, von Zuversicht und Mut.
A’ida lebt die Freiheit in jedem Winkel ihres Lebens, selbst in vom Regime vergewaltigten Situationen. Und an dieser Kraft, an dieser Beschwörung von Freiheit & Liebe möchte A’ida ihren Xavier teilhaben lassen. Sie stellt ihm ihre Nachbarn vor, erzählt von gemeinsamen und neuen Freunden, sie ruft ihm die Erinnerung an eine gemeinsame Flugstunde wach, sie holt ihm die Weite des Himmels in seine Gefängniszelle: »Das Cockpit der CAP, mein Lieber, ist kleiner als Dein Loch.« und »Wie mein Körper war die Stille bis zum Bersten mit Ferne gefüllt.«
Sie ist nicht perfekt, sie versucht souverän ihr Leben und ihre Liebe aufrecht zu erhalten, einige (nicht an Xavier abgeschickte) Briefe berichten von ihrer Sehnsucht nach körperlicher Liebe, von ihrer Wut und ihrer Verzweiflung. A’ida verzichtet und sie zweifelt: »Warum hatte ich geweint? […] Weil mir klar wurde, dass ich […] nicht auf Dich angewiesen bin? Auf Dich! Es sind die kleinen Dinge, die uns erschrecken. Die großen, lebensbedrohlichen geben uns Mut.«
Und so haftet an aller Elegie und an allem amourösen Psalmodieren stets auch der bittere Geschmack der (partiellen) Kapitulation, oder zumindest des Sieges des totalitären Staates. Ein paar Mal konkret, meist jedoch in Andeutungen, in der Art, wie die Gedanken liegen & erliegen. »Wenn die Zukunft unfruchtbar ist, wird vielleicht die Vergangenheit schwanger.«
John Berger weiß, in wenige und einfache Worte ein unglaubliches Bouquet aus Poesie, Feingefühl, Beobachtung, Traurigkeit und Sympathie zu legen; und das ist seine wahre Kunst! »War auf Besuch bei Deiner Mutter. Alles in allem geht es ihr nicht schlecht. Wenn du durch die Haustür trittst, hast du immer das Gefühl, sie direkt auf den Mund zu küssen. […] Sie nimmt den Ring und steckt ihn an den kleinen Finger meiner Linken, und ich mache eine Geste, als würde ich über den Kopf eines Hundes streichen. Und Deine Mutter hält den Atem an und erinnert sich in der ungeheuren Stille ihres Körpers daran, wie sie vor fünfzig Jahren mit demselben Ring die gleiche Geste machte.«
Berger gelingt ein ganz und gar unprätentiöses Buch, sehr sanft & subtil, manchmal allerdings zu seicht für meinen Geschmack. Er belehrt nicht, er palavert nie, immer hat A’ida etwas zu sagen, oft sind die Situationen selbst, von denen sie erzählt, die Symbole. Auffällig ist sein Hang zu etwas, das man vielleicht einen “orientalischen Gesprächshabitus” nennen kann: Was die Charaktere sagen und antworten scheint unverbunden, und dennoch birgt alles zusammen eine tiefere Allegorie.
Trotzdem fehlt etwas Salz. Das Buch verströmt die Ruhe und Einsicht eines alten Mannes (John Berger ist Jahrgang 1926), was nicht schlecht ist und uns eine ganz märchenhafte Auffassung von der Liebe beschert. Nur hin und wieder will dieser Duktus nicht recht zum Setting passen.
Dennoch: ein kurzweiliges Buch für innere Wärme an kalten Wintertagen.
warmherzig aber ungesalzen –